Kleines Lied für Christa Wolf

 

Christa Wolf ist gestorben. Ich habe sie noch bei einer Lesung im Literarischen Colloquium am Wannsee erlebt. Sie wirkte entspannt, souverän und sympathisch. Sie hatte das Publikum von Anfang an auf ihrer Seite.

 

Ich hatte keine Vorurteile – dachte ich zumindest. Ich kannte sie ja kaum. Dabei bin ich als halber Ossi ein treuherziger Freund der DDR-Literatur (gewesen): Barbara Honigmann mag ich besonders und natürlich Jurek Becker. Insgesamt gesehen verliert diese Sonderform der Literatur jedoch viel von ihrem Glanz, wenn man sie nicht mehr mit gutwilligem Blick betrachtet. Ich war jedenfalls gespannt.

 

Sie las aus ihrem neuen Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, das in Los Angeles spielt. Die Sorgen der alten Welt verfolgen sie bis dahin, sie leidet darunter, dass sie mit einer Stasi-Vergangenheit behängt wird – und wie sich nun im fernen Deutschland die Medien und ihre Bekannten dazu verhalten. In der Stunde schwerer Not fängt sie überraschenderweise an, alte deutsche Lieder zu singen, bis sie erlöst wird, als am frühen Morgen ein Vogel zu ihr kommt.

 

Ich hätte mich vorgedrängelt und nachgefragt, welche Lieder sie da gesungen hat. Den Gefallen tat sie mir auch so. Es folgte eine nicht enden wollende Liste von Kinder- Kampf- und Kirchenliedern – und gleichzeitig spürte man, wie sich im Publikum etwas tat. Es gluckerte und brodelte. Mich hatte sie damit auch gewonnen. Christa Wolf schöpfte mit vollem Eimer aus einem verloren geglaubten Fundus, als gäbe es eine gesamtdeutsche Musikbox, und man müsste nur die Titel vorlesen, und schon summt und brummt es überall in den Hinterköpfen. War es vorher ein wenig dröge gewesen (die Luft war auch so schlecht, und es war rappelvoll), so kam nun fast so etwas wie Stimmung auf. Hier und da fühlte sich jemand erinnert und reagierte mit einem Schmunzeln.

 

Mein Vater behauptet, dass er tausend Lieder kennt. Er meint es ernst. Er hält die Zahl nicht für hoch gegriffen. Freunde haben mir erzählt, dass sie in den letzten Stunden vor dem Tod von nahen Verwandten, mit ihnen gemeinsam Lieder gesungen hätten und sich dabei auch gewundert hatten, wie viele sie noch kannten. Mir fiel Herta Müller ein, der ich hoch anrechne, dass sie mal gesagt hat, wir sollten „den Kitsch neu bewerten“, in Gefangenschaft haben die Leute La Paloma gesungen.

 

Doch bei der Gelegenheit fiel mir auch auf, wieweit die beiden Autorinnen auseinander liegen. Herta Müller hat eine wunderbare Sprache voller Überraschungen, Christa Wolf meidet Ausschläge nach oben und unten. Sie hat es bei einer anschließenden Aussprache erklärt: In der DDR war alles „unerwünscht“, was „übermäßig individualistisch“ war. Das ist ein Tiefschlag für die Literatur. Das hat schlimme Folgen. Damit zieht man der Kunst den Stecker raus. Auch für das Gesamtbild einer Gesellschaft wirkt es ernüchternd und lieblos. Wenn keine persönlichen Vorlieben mehr erlaubt sind, verkümmert mit der Vorliebe auch die Liebe.

 

So ist dieser Grauschleier entstanden, an dem man die DDR zuverlässig erkennen konnte, dieser halblaute Ton, der pflichtschuldig und prophylaktisch resigniert von den „Mühen der Ebene“ und der „Ankunft im Alltag“ berichtet – immer mit einem Fuß auf der Bremse. Beleidigt, geduckt und lätschig. Stets mit Vorwürfen und Unterstellungen gegen die bösen Feinde, die überall lauern. Selten ist da ein echter Ausdruck von Freude – nur aufgesetzter Optimismus – selten ein wirklicher Ausdruck von Schmerz, denn der würde ja – so wie jede auch nur halbherzige Kritik am Sozialismus – letztlich nur dem politischen Gegner nützen.

 

Das ist auch der Grund, weshalb in der DDR die Rockmusik, die im Westen oft schon nicht mehr richtig ernst genommen wurde, für die Jugend im Sozialismus so unwiderstehlich war. Da gab es das alles: tief sitzendes Leid und himmelhoch jauchzende Euphorie, ohne Angst, etwas falsch zu machen oder jemandem nicht „gerecht“ zu werden. Christa Wolf macht es recht. Christa Wolf rockt nicht. Es ist keine Frage des Alters. Herta Müller rockt schon.

 

Menschen ohne Freiheit, ihre Individualität auszuleben, haben wir auch an anderen Stellen in der Welt der DDR getroffen. Das war normal. Im Roman Der fremde Freund. Drachenblut von Christoph Hein fragt sich der Held, was eigentlich ein „persönliches“ Geschenk sein soll, ob es das überhaupt gibt. Egal. Es geht auch so. Der sozialistische Einheitsmensch ist „ohne Eigenschaften“, „ohne besondere Kennzeichen“, er ist vor allem Träger von einer Idee, Individualität gibt es da nur als unerwünschte Abweichung. Nicht etwa als Bereicherung. Die Literatur strebt nicht nach Kunst, sondern nach Konsens. Sie ist nicht umgetrieben von der Suche nach Wahrheit, sondern von der Suche nach dem Mittelweg.

 

Stopp! Okay … ich muss aufpassen, ich will nicht ungerecht werden, ich weiß selber, warum mich dieses DDR-feeling nervös macht. Ich fürchte, dass wir dabei sind, uns unter der Dunstglocke der polischen Korrektheit eine ebenso betreute und überwachte Kulturlandschaft zu erschaffen – als DDR 2.0.

 

Immerhin: Ich habe mir ihr Buch allein schon wegen der Lieder-Liste besorgt, und ich habe darin ein Zitat gefunden, das ich gerne weitersage:

 

„Falsche Empfindungen kann man bedauern, vielleicht sogar verfluchen, aber nicht zensieren oder ändern. Jedenfalls dauert es Jahre, Jahrzehnte, ehe eine ehemals falsche Empfindung nur noch falsch und keine Empfindung mehr ist. Und vielleicht heißt eben das sich verändern. Aber man kann seine falschen Empfindungen natürlich auch hätscheln.“

 

 

Comments are closed.