Meine Sendereihe „Unter Freunden“ kann man jeden Donnerstag um 20.05 Uhr auf Kontrafunk hören. Um 23.05 gibt es eine Wiederholung. Sowie um 08:05 und um 11:05 Uhr am nächsten Tag. Die Sendungen werden auf der Seite des Senders archiviert: Es gibt dazu extra eine Schaltfläche in der Stirnleiste. Da findet man alle Folgen von „Unter Freunden“. Alle Sendungen aus dem Jahr 2022 sind hier.
Komm! Ins Offene, Freund!
“ … So komm! daß wir das Offene schauen, Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“
Friedrich Hölderlin
Zwei Vorstellungen hatte ich im Sinn, als ich dieses „Format“, wie man es unter Medien-Leuten nennt, ausgebrütet habe. Denn es ist schon eine recht spezielle Form des Gespräches, bei dem es vor allem darauf ankommt, in welchem Geist es stattfindet, unter welchem Stern es steht – kurz: dass es auch ein Gespräch wie UNTER FREUNDEN ist.
Dabei habe ich einerseits an das bekannte Zitat von Jean Paul gedacht, der meinte, dass ein Buch „ein langer Brief an Freunde“ sei, und andererseits an das Bekenntnis von Thomas Jefferson, der sich vorgenommen hatte, dass er einen Unterschied in politischen, philosophischen oder religiösen Ansichten niemals als Grund sehen würde, deswegen eine Freundschaft aufzugeben.
Das war einmal. Ich weiß: Heute sieht das anders aus. Die Welt des Buchhandels ist keineswegs so, wie Jean Paul sich das gewünscht hat. Heute zerbrechen Freundschaften schon am falschen Sprachgebrauch. Ein freundliches Lächeln verschwindet hinter einer Maske. Heute finden überhaupt keine richtigen Gespräche mehr statt. Es gibt keine Unterhaltungen mehr UNTER FREUNDEN. Denn es gibt keine gute Unterhaltung unter missgünstiger Überwachung.
Ich weiß es selber: Ich habe hier von Idealen aus einer anderen Zeit geträumt. Aus einer anderen Welt. Doch es gibt solche Ideale. Es gab sie zumindest. Es sollte sie wieder geben.
Es gibt Hörer, die zumindest in einer Hinsicht so sind wie ich: Sie haben sich alle Sendungen angehört. Sie haben schnell gemerkt, wie unterschiedlich die Gespräche sind und dass sie dennoch etwas haben, das sie alle verbindet: mein Bestreben, gute Unterhaltung in Form von guten Unterhaltungen UNTER FREUNDEN anzubieten. Aus der Fülle des Lebens. Aktuell – und gleichwohl über den Tag hinaus. Deshalb werden die Gespräche archiviert.
Ein Glücksfall: Die japanische Konzertpianistin Chie Ishii lernt Marita Malicke kennen, eine der Töchter von Heinz Erhardt, von dem sie noch nie gehört hatte. So kommt sie an bisher unbekannte Noten aus dem Nachlass und lernt über den privaten Zugang – ohne irgendwelche Vorbehalte zu haben – Heinz Erhardt als ernsthaften Künstler kennen, als eigenständigen Musiker, als feinen Poeten und großen Humoristen. So schenkt sie uns mit ihren Programmen einen neuen Heinz Erhardt und erinnert daran, dass der Frohsinn eine ernste Sache ist, und dass wir das Ernste nicht tragisch nehmen sollen.
Diesmal lade ich Sie ein in das Dada-Künstlercafé in Berlin, das nach dem Vorbild von Kurt Schwitters als „Merz-Begegnungsstätte“ dienen soll. Ich spreche mit Robert Baron von Berlershaut, der sich selbst als einer der letzten lebenden Dadaisten sieht, über die Geschichte und die Aktualität dieser Kunstrichtung, die sich stets allen Erklärungsversuchen entzieht. Er erzählt von den turbulenten Anfängen im Cabaret Voltaire in Zürich, von der Verfolgung durch die Nazis als entartete Kunst und den späteren Erfolgen in New York. Für ihn ist Dada ein umfassendes Lebensgefühl, ein Impuls für Freiheit und Innovation.
Es geht um ein heißes Eisen. Besser gesagt um zwei heiße Eisen. Ein heißes Eisen im übertragenen Sinne ist das neue Buch von Ulrich Kutschera mit dem Titel „Corona-Wahn. Schluss mit Virus-Angst, Ekel-Masken und Impf-Manie“. Darin geht es neben einer aktuellen Bestandsaufnahme zur Corona-Lage um das historische Brenneisen, mit dem das Universalgenie E.T.A. Hoffmann einst behandelt wurde. Gibt es da etwa einen Zusammenhang? Ja. Es führt eine heiße Spur von dem medizinischen Drama aus dem Jahre 1822 direkt zur Charité, von den Prinzipien von damals zu den Defiziten von heute.
Wovon träumen wir? Wovon träumt der Kapitän? Peter Losinger ist der richtige Traumschiffkapitän - nicht der aus dem Fernsehen. Er fuhr auf Frachtschiffen und war 30 Jahre lang Gala-Kapitän auf dem Kreuzfahrtschiff ‚MS Europa‘. Wir fragen uns, was das eigentlich für Träume sind. Ist es wirklich der Wunsch, die weite Welt kennenzulernen, oder ist es die Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend, die mit dem Kulturprogramm der Altstars auf hoher See simuliert wird? Wir sprechen über die großen Dramen und Legenden der Seefahrt, über den Untergang der ‚Titanic‘, über das Unglück der ‚Costa Concordia‘ und über die Meuterei auf der ‚Bounty‘.
Der Wald ist nicht gestorben, er gibt uns neue Kraft
Zusammen mit dem Waldpädagogen und Liedermacher Mathias Lück gehen wir zweimal in den Wald. Der erste Spaziergang führt uns zugleich zurück in die 80er Jahre, in eine Zeit, als sicher war, dass der Welt stirbt. Mathias Lück erklärt den Trick, mit dem der Wald damals gerettet wurde. Er verrät auch, welche Kinderlieder heute nicht mehr gesungen werden sollen und was für Kinder das übelste Schimpfwort ist. Dann machen wir einen zweiten Versuch und gehen zum Baden in den Wald und versuchen, die heilende Kräfte auf uns wirken zu lassen und uns zu entspannen – bis der Wolf kommt.
Der Philosoph und Sachbuchautor Alexander Ulfig ist in geistiger Nähe zu Immanuel Kant aufgewachsen und hat in seiner Heimat Schlesien Erfahrungen gemacht mit einem Weltbild, das sich am Kollektiv orientiert und das Individuum unterordnet. Das hat ihn zu einem entschiedenen Gegner von Quotenregelungen gemacht und hat ihm deutlich gemacht, welchen Wert Individuen haben, die sich für andere engagieren, und wie Ausnahme-Künstler wie Jimi Hendrix dabei als Vorbild dienen können. Er erzählt außerdem, was man von den Dissidenten in Polen und von deren Methoden lernen kann.
Die Männer sind in der Krise. Sie gelten als toxisch, als Mängelwesen, als Verlierer. Maximilian Pütz hilft ihnen mit seinen „Casanova Coaching“-Kursen, das nötige Selbstbewusstsein aufzubauen, um Frauen anzusprechen und zu verführen. Er nicht nur ein erfolgreicher Coach, er ist außerdem eine laute Stimme, wenn es darum geht, überdrehte Feministen zu kritisieren und den Unsinn der Corona-Maßnahmen. Das muss man als richtiger Mann auch. Denn, so meint er, in einer Notsituation zu schweigen, sei eines Mannes unwürdig.
Der Schriftsteller Manfred Rosenboom erzählt die Geschichte vom Steinmännchen an der Marienkirche in Lübeck. Das ist die Figur von einem Kaufmann, der zur Zeit der Pest einen Pakt mit dem Tod geschlossen hat. Er kann nicht sterben, will aber auch nicht länger leben. Was geschieht? Er versteinert. Was sagt uns dieses Sinnbild vor dem Hintergrund der dramatischen Situation in den Alters- und Pflegeheimen? Ich spreche mit Manfred Rosenboom über Sterbehilfe und Lebenswillen, über frühen Sex und späte Lebensfreuden. Wir fragen uns, wie lange wir leben wollen und wie intensiv wir leben wollen.
Die New York Times nennt Jordan Peterson den „aktuell einflussreichsten Vordenker der westlichen Welt“, er ist auch einer der umstrittensten, der einerseits als der „neuer Sokrates“ verehrt und andererseits als Kritiker der woken cancel-culture heftig angefeindet wird. Seit Jahren ist er mit seinen Vorträgen auf Welttournee – nur in Deutschland war er bisher nicht. Gibt es da eine Besonderheit? In einem launigen backstage smalltalk gibt seine Frau Tammy ein Stimmungsbild von ihrem Termin in Berlin. Sie erzählt von den Hintergründen ihrer Tournee, den Protesten der Antifa und vom Umgang mit Anfeindungen.
Ist unser Leben vorherbestimmt? Folgt es einem Plan, der uns nicht bewusst ist? Können wir dem überhaupt entkommen? Ich spreche mit dem Psychotherapeuten, Autor und Zeichner Andreas Steiner über die Möglichkeit, die kindlichen Liebeswünsche, die etwas Gutes bewirken wollen, sich allerdings leicht zum Schlechten wenden können, in eine erwachsene Liebe umzuwandeln, die allen guttut. Es geht dabei um Elvis Presley, Ernest Hemingway, den Fluch des Kriegs und um den Schatten der Nazis.
Gibt es eine Versöhnung bei Menschheitsverbrechen?
Das sind große Worte. Große Fragen, die wir normalerweise liegen lassen. Nun kommen sie auf den Tisch. Milosz Matuschek spricht von einem „staatlichen Menschheitsverbrechen“, von „millionenfacher schwerer Körperverletzung“, von einem „Großverbrechen“. Wir sprechen über den Film ‚Pandamned: Die Welt im Bann einer Pandemie‘‘ von Marijn Poels, den Milosz Matuschek initiiert hat – ein aufwändiger, anspruchsvoller und verstörender Film mit Überlänge, und wir stellen uns die Frage, wie bei einer derartig „monströsen Schuld“, eine Versöhnung überhaupt möglich ist.
Wikipedia – vom Gratis-Lexikon zum Denunzianten-Stadl
Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Alle Informationen werden für jeden frei zur Verfügung gestellte, jeder kann sich an dem Projekt beteiligen und sein Wissen mit allen teilen. Markus Fiedler, der inzwischen zwei Dokus zum Thema erstellt hat und sich als Sachverständiger für Verschwörungstheorien sieht, weiß es besser: „Die Wikipedia war nie ein Lexikon. Sie war immer ein Denunziations-Werkzeug, ein Werkzeug zur Manipulation der Massenmeinung.“ Mit ihm werfen wir einen Blick auf die dunkle Seite dieses ach-so-unschuldig wirkenden Online-Lexikons.
Weltmusik steht heute in der Kritik und muss sich rechtfertigen. Nils Kercher und Kira Kaipainen erzählen von Missverständnissen, von körperlichen Einsätzen, von der Mühe, sich mit fremden Kulturen auseinanderzusetzen und die Teile dann wieder zusammenzufügen. So konnten sie ihre eigenen Stimmen entdecken und zugleich einen gemeinsamen menschlichen Nenner finden, der die Kontinente und die Generationen verbindet. Es geht um Vorurteile, um Mythen, um Magie, um Tradition, um Sklaverei, um Beschneidung, um Trost und Hingabe und um eine Kraft, für die wir keine Worte haben.
Er wäre in diesem Jahr achtzig geworden. Christof Stählin ist ein vergleichsweise unbekannter, aber vermutlich einer der einflussreichsten Liedermacher gewesen, der uns nicht nur seine Werke hinterlassen hat, sondern obendrein eine Akademie – eine Schule, in der man eine Sichtweise erlernen kann, die an barocke Ideale erinnert und einem einen besonderen Blick auf die Welt ermöglicht, der von Gelassenheit und Dankbarkeit gekennzeichnet ist. Für Martin Betz ist es das Glück seines Lebens. Davon erzählt er.
Gibt es ein gutes Leben im schlechten? Ein erfülltes Leben in einer Welt voller Mängel? Ein geschmackvolles Leben in einer Zeit voller Geschmacklosigkeiten? Michael Klonovsky ist ein Genießer, der es versteht, mit den kleinen Dingen den Alltag zu verfeinern und er schwärmt für die große Kunst. Er kommt aus der DDR, „aus der Zukunft“, wie er selber sagt, und gibt uns anlässlich der Feier seines sechzigsten Geburtstages Empfehlungen für die mageren Jahre, die demnächst auf uns zukommen werden: Macht Kinder und trinkt Wein!
Hans Scheuerlein – der „Musikliebhaber des halben Jahrhunderts“ – schreibt Popgeschichte auf eine ganz eigene Art. Er blickt stets auf einen Zeitraum von fünfzig Jahren zurück und wundert sich, dass sich die Begeisterung für seine Lieblingsplatten so lange gehalten hat. Speziell die Musik der Beatles hat sich als eine Art von Weltkulturerbe erwiesen, an dem sich das Gefühlsleben von mehreren Generationen ablesen lässt. Wir reden über Verschwörungstheorien, über Missverständnisse, versteckte Botschaften, über Adorno, über die Verteufelung der Russen und über das Geheimnis der fehlenden Liebe.
Wie passt das zusammen? Gut. Jedenfalls im Fall von Ludwig Lugmeier, der mit Überzeugung Verbrecher war und nun mit Leidenschaft Schriftsteller ist. Er erzählt, wie sein erster Einbruch zugleich ein Ausbruch aus einer beengten Welt war. Er spricht von seinem spektakulären Überfall auf einen Geldtransport, von seiner Flucht aus dem Gefängnis, vom wahren Glück, von der Faszination des Bösen, von bewegten und bewegenden Bildern, und – am Beispiel des Hochstaplers Jack Bilbo – von der Bedeutung der richtigen Bekleidung, wenn es darum geht, „eine Rolle“ zu „spielen“.
Der Verrat an der Wahrheit, am Leser und an Julian Assange
In der Corona-Krise haben die Medien – gerade die Qualitätsmedien – von Anfang an versagt. Der Jurist und Journalist Milosz Matuschek, der für die angesehene Neue Zürcher Zeitung Kolumnen geschrieben hat, zieht in seinem Buch ‚Wenn’s keiner sagt, sag ich’s‘ eine bittere Bilanz, der man kaum widersprechen kann: Die Presse war keine Hilfe, sie war ein bedeutender Teil des Problems. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als eine funktioniere Presse so nötig gewesen wäre, wie nie zuvor. Es wird einen harten Aufprall geben. Wir brauchen dringend die Wahrheit: gimme the truth!
Sei guten Mutes. Betrachte das Chaos der Bahn als Schule des Lebens! Dietmar Bittrich, der für bitterböse Satiren über misslungene Weihnachtsfeiern mit der buckligen Verwandtschaft und für das beliebte Gummibärchen-Orakel bekannt ist, zeigt in seinem neuen Buch, wie er von den Spitzen des schwarzen Humors zu goldenen Worten der Erleuchtung gefunden hat. Für ihn ist der Zustand der Bahn eine göttliche Fügung, die jeden Reisenden auf sich selbst und auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zurückwirft. „Bahnfahren macht glücklich“, lautet seine Losung. Na dann, viel Spaß.
Kein Katzenjammer beim Erfinder der berühmten Katzen-Krimis. Der Autor sollte ausgelöscht werden. Der Buchhandel, der eben noch seine Bücher in Mengen verkauft hat, tut es von heute auf morgen nicht mehr, auch wenn die Bücher gar nicht indiziert sind. Die literarische Welt schweigt dazu – nicht ganz: Einige stimmen sogar in den Chor der Dämonisierungs-Aufrufe ein und befeuern ihn. Akif Pirinçci erzählt von seinem spektakulären Erstling, der Eigenwelt der Katzen-Krimis, seinen literarischen Vorlieben und seinem Versuch, allen Angriffen zu widerstehen und sich in neue Abenteuer zu stürzen.
Die Feinde der Biologie schlagen zu. Für sie ist Ulrich Kutschera ein Gegner, dem sie nicht argumentativ begegnen könnten, so dass sie zu anderen Mitteln greifen müssen. Dass er sich mit Kreationisten angelegt hat, wurde noch geduldet, doch seine Kritik am Genderismus hatte eine rote Linie überschritten und ihm heftige Feindschaft eingebracht. Ulrich Kutschera erzählt seinen Werdegang vom „Schlangen-Ulli“ zum Blutegel-Züchter, vom bösen „Bio-Buhmann Nummer 1“ zum internationalen Wissenschaftler von Rang – und er überrascht uns als Beinah-Popstar mit seiner Musik.
„Die ganze Welt ist wie verhext“, heißt es in dem Schlager ‚Veronika, der Lenz ist da‘, „die Mädchen singen Tralala“. So war das Lebensgefühl der Weimarer Zeit. Heute leben wir wieder in Zeiten, die uns so vorkommen, als wären sie aus den Fugen geraten. Ich spreche mit dem Schriftsteller Gunnar Kunz, der uns den „Gender-Empathy-Gap“ erklärt und seine fast vollendete Roman-Reihe über die Weimarer Republik vorstellt, die er uns in ihrer Widersprüchlichkeit und Farbigkeit nahebringt. Dann können wir uns fragen, welche Lehren wir aus dieser wirren Epoche ziehen. Gleiten wir etwa wieder in einen totalen Staat ab? Sind wir durch moralischen Doppelstandard und der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft schon darauf vorbereitet?
Was machen sie anders? Warum gendern sie nicht? Wie sieht es mit den Corona-Maßnahmen aus? Mit Windrädern? Mit Integration? Mit Diskriminierung? Warum zahlen finnische Männer Unterhalt, deutsche dagegen nicht? Wie kann man die Bürokratie-Hörigkeit der Deutschen zur Kindererziehung nutzen? Ich spreche mit dem Langzeit-Politik-Aktivisten Thomas Penttilä, der beide Länder aus der Nähe kennt, über den seltsamen finnischen Tango mit deutschen Texten, über erstaunliche Unterschiede in der Familienpolitik, über finnischen Humor und über den beliebten Unterhosen-Rausch.
Lockdown. Das Leben liegt brach. Nicht ganz. Plötzlich wird im Süden Europas wieder auf den Straßen getanzt, obwohl gerade das nicht erlaubt ist. Mit Flashmobs und Straßenaktionen wird zu den Klängen von ‚Danser Encore’ die unverwüstliche Lust am Leben auf die Straßen getragen und eine neue Art des freundlichen Protests ausprobiert. Eine Tanzwelle schwappte über Europa von Portugal bis Russland – ja, sogar bis Südamerika und Afrika. Natürlich auch nach Berlin. Ich spreche darüber mit Lüül von den 17 Hippies, einem Weltstar der Straße, der bei solchen Aktionen im Hintergrund die Strippen gezogen hat.
Stasi West. Die Hinterlassenschaft von Anetta Kahane
Wir haben eine Meinungsklima-Katastrophe. Es fühlt sich ganz so an, als müssten wir kuschen wie unter der Beobachtung der Stasi. Welchen Anteil haben Anetta Kahane und ihre Amadeu Antonio Stiftung an diesem Stimmungswandel? Wie kommt es, dass die Stasi-Methoden des Kontaktschuld-Vorwurfs und der Zersetzung durch Angriffe auf die Person weiterhin angewendet werden? Wieso stehen wir so schnell unter Verdacht, Antisemiten zu sein? Darüber spreche ich mit dem Journalisten Johann Leonard, der seinerseits das Wirken und Werden von Anetta Kahane beobachtet und beschrieben hat.
Was ist die Rote Pille? Können wir heute noch tanzen?
Was soll das für eine Pille sein? Ist damit womöglich eine neue Aufklärung gemeint? Sebastian Wessels hat die deutschen Untertitel zu „The Red Pill“ erstellt und spricht mit mir über die Hintergründe des Dokumentarfilms, sowie über Männerrechtler, Milo Yiannopoulos, Steven Pinker und über die weit verbreitete Vorstellung vom Menschen als unbeschriebenem Blatt. In seinem neuen Buch „Im Schatten guter Absichten“ geht es darüberhinaus um die so genannte kulturelle Aneignung und die postmoderne Wiederkehr des Rassendenkens. Da stellt sich dann schon die Frage, ob wir heute überhaupt noch tanzen können. Können wir das noch?
Ich habe den Vorhang ein wenig zur Seite gezogen und versucht, einen Blick hinter die Kulissen der Multi-Kulti-Kultur zu werfen und habe mich bei der Gelegenheit gefragt, ob nicht hinter der Sehnsucht nach dem Fremden womöglich die Trauer über den Verlust des Eigenen lauert. Darüber habe ich mit Christoph Gupta gesprochen, der in einer Zeit, als es hieß „Multi Kulti ist tot“, erfolgreich gemischte Spektakel mit Bauchtanz, Flamenco und indischer Musik auf die großen Bühnen gebracht hat. Reibungen und Unstimmigkeiten sind ihm dabei natürlich nicht entgangen – dennoch: Er kriegt immer noch rote Ohren, wenn er an Paco de Lucia denkt und an das Glück, ihn kennengelernt zu haben.
Ich habe mit Vera Lengsfeld, die in diesem Jahr siebzig geworden ist, über ihr ereignisreiches Leben von siebzehn bis siebzig gesprochen. Vorab ging es kurz um die Corona-Maßnahmen, dann aber sofort um verbotene Liebe, Beat-Musik, das Café Sibylle, das Graue Kloster, die Rolling Stones, „Leander Haußmanns Stasikomödie“, Bettina Wegner, Bienen und ihren Weg von den Grünen zur CDU. Es ging um die Nebenwirkungen der großen Koalition, ihr Verhältnis zu Angela Merkel, schließlich um ihren Ausstieg aus der Politik und der Besteigung eines aktiven Vulkans – als Zeichen, dass sie weiterhin mit einer eigenen Stimme aktiv bleiben wird.
Ein Video aus dem Jahre 2016. Hier wird er gefragt, was er von Nazis hält, mit denen er in Verbindung gebracht wird.
Warum lässt er sich keine Sprachvorschriften machen?
Hier die komplette Talkshow, in der Jordan Peterson erklärt, dass er sich keine Sprachvorschriften machen lässt und er sogar in den Hungerstreik treten würde. Bemerkenswert sind hier die Befürworter der „gendergerechten“ Sprache.
Was hat es mit dem Gender-Pay-Gap auf sich? Warum ist Wahrheitssuche wichtig?
In diesem Interview werden ihm immer wieder Positionen unterstellt, die er gar nicht vertritt. Es hat daher als das „So-you-are-saying-Interview“ eine gewisse Berühmtheit erlangt und hat außerdem einen gewissen Unterhaltungswert. Hier wird nicht nur das Mythos vom Gender Pay Gap demontiert, es wird auch die Frage beantwortet, weshalb sein Anspruch, die Wahrheit sagen dürfen, eine größere Bedeutung haben sollte, als der Anspruch eines Transsexuellen, nicht beleidigt zu werden.
Noch mal: Wie ist es mit den Rechten? Und mit dem feministischen Weltbild?
Das Interview mit Helen Lewis hat über 49 Millionen Aufrufe, ist sehr gründlich und stellt seine Weltsicht einer sehr bemühten, kämpferischen Feministen gegenüber, die ein Buch über die Geschichte der Frauenunterdrückung geschrieben hat.
Welche der 12 Regeln ist besonders schwer zu verfolgen? Warum haben Maßnahmen, die Gender-Gerechtigkeit bringen sollen, keinen Erfolg?
Im schwedischen Fernsehen antwortet er auf die Frage, welches diejenige seiner zwölf Regeln ist, die auch für ihn selber schwierigsten zu befolgen ist: „Speak the truth.“ Außerdem wird erklärt, was es mit dem Gender-Paradox auf sich hat: Je mehr versucht wird, eine gleiche Repräsentation der Geschlechter durchzusetzen, je mehr wird das Gegenteil erreicht.
Jordan Petersons Abschied von der Universität. Was bedeutet die DIE-Formel?
DIE must die! Die Todesformel der akademischen Welt.
Das Buch ist da. Das Café ist eröffnet. Rund um die Uhr
Es ist sogar ein Buch mit Musikbegleitung. Wie das?
Matthias Kadar, Komponist und Chansonnier, hat für das vorliegende Buch eine kleine Café-con-Amore-Musik komponiert, die mit einem QR-Code im Buch abgelegt ist. Das Stück versucht, die Stimmung zwischen Sehnsucht und Erwartung wiederzugeben, die ein Besucher mit sich herumträgt, der auf der Suche ist nach dem geheimnisvollen Café.
Mit am Werk war auch Martin Oswald, Professor für Kunst, Zeichner und Autor, der für zehn Zeichnungen einschließlich des Titelbildes sorgte. Es fehlen noch die Menschen. Die sind nicht gezeichnet. Die sind im Kopf.
Den Text habe ich geschrieben.
Was ist das für ein Café?
Das Café Con Amore ist ein Sehnsuchtsort für empfindsame Gäste, die dort dem Versprechen einer magischen Begegnung nachspüren. Bernhard Lassahn, den Robert Gernhardt als „den neuen Milden“ bezeichnet hat, dem eine „verquere Zärtlichkeit“ bei der Beobachtung und Beschreibung bescheinigt wurde, führt uns mit seinem Text in die hohe Kunst des Lächelns.
Haben Sie schon von einer „öffentlichen Schreibweise“ gehört? Nein, noch nicht? Dann hören Sie mal. Ich meine natürlich: dann lesen Sie bitte weiter.
Ihre Meinung ist uns wichtig
„Ihre Meinung ist uns wichtig“ – wenn mir jemand so kommt, bin ich sofort misstrauisch und vermute ein vorgetäuschtes Interesse. Wir kennen das. Wir werden gefragt, haben aber nichts zu sagen. Es wird lediglich so getan, als gäbe es einen Hauch von Mitbestimmung, wir werden nur irgendwie mit einbezogen, selbst wenn wir leise murren, wir werden abgeholt und mitgenommen auf eine Reise, bei der das Ziel längst feststeht. Nun ist es passiert. Ich wurde gefragt.
Und? Wie ist meine Meinung zur „öffentliche Schreibweise“? Schwer zu sagen. Ich höre den seltsamen Begriff zum ersten Mal und weiß nicht so recht, was damit gemeint ist. Ich habe allerdings meine Vermutungen. Mit dem verführerischen Charme der Undeutlichkeit soll hier eine Veränderung eingeführt werden, die viel weitreichender ist, als die scheinheilige Befragung erahnen lässt. Ich halte das Zauberwort von der „öffentlichen Schreibweise“ für eine Mogelpackung. Für einen raffinierten Taschenspielertrick. Wie komme ich dazu? Sehen wir uns die beiden Komponenten näher an. Undeutlich ist sowohl das „öffentlich“ als auch die „Schreibweise“. Beide Komponenten setzen eine Spaltung voraus. Schauen wir mal:
Wie hätten Sie denn gerne eine öffentliche Schreibweise?
Der P.E.N. befragt zu dem Thema die „Kolleginnen und Kollegen“. Einer von ihnen, Prof. Dr. Lutz Götze, ist zugleich Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, und dieser Rat will nun rechtzeitig zu seiner nächsten Sitzung am 26. März ein Papier der ArbeitsgemeinschaftGeschlechtergerechte Schreibung (der Herr Götze ebenfalls angehört) verabschieden, das eine „Empfehlung“ für den oben erwähnten „öffentlichen Schreibgebrauch“ abgeben will. Zur Diskussion stehen dabei folgende Möglichkeiten:
„-Doppelnennung: vollständige Paarform: (Schülerinnen und Schüler, jede und jeder)
–Ersatzformen: geschlechtsneutrale übergreifende Formulierungen/Abstrakta: weder Frauen noch Männer sind sprachlich sichtbar (Studierende, Lehrkräfte, Gäste, Direktion)
Varianten geschlechtergerechter Markierung für mehr als zwei Geschlechter sind:
-*Asterisk( Sternchen): (Lehrer*innen, Ärzt*innen). Hier ergibt sich ein Fehler beim Stammmorphem(der *Ärzt)
–Gender-Gap-Varianten: Aufhebung binärer Personenvorstellungen. Männliche und weibliche Personen sowie inter* und trans* sind gemeint:
Nun dürfen wir gespannt sein, welche dieser Empfehlungen das Rennen machen. Sie sollen speziell für den „öffentlichen Schreibgebrauch“ gelten – für den öffentlichen wohlgemerkt, also nicht für den literarischen. Denn „literarisches Schreiben und persönliche schriftliche Äußerungen (Brief, Karte, e-mail)“ sollen, wie es lakonisch heißt, „nicht betroffen“ sein.
Da fragt man sich: Warum werden dann ausgerechnet die Mitglieder des P.E.N. dazu befragt? P.E.N. ist die Abkürzung für Poets, Essayists und Novellists. Die sind nicht betroffen. Denn den vielen Romanciers, Essayisten und Poeten, die im P.E.N. organisiert sind, geht es um literarisches Schreiben. Sollen sie trotzdem den neuen Empfehlungen für den „öffentlichen Schreibgebrauch“ folgen? Etwa dann, wenn sie nicht literarisch (und nicht persönlich) schreiben, wenn sie beispielsweise Stellungnahmen abgeben oder Solidaritätsadressen verfassen?
Sollen also die Mitglieder im P.E.N. zukünftig einen doppelten Schreibgebrauch pflegen, so dass sie in ihren Novellen weiterhin von inhaftierten „Journalisten“ schreiben, bei ihrem „öffentlichen Schreibgebrauch“ jedoch von „Journalistinnen und Journalisten“, von „Journalist*innen“, von „Journalist_innen“, „Journalist:innen“ oder „JournalistInnen“?
Kann man Öffentlichkeit teilen?
Es heißt: „öffentlicher Schreibgebrauch“. Wenn es um Öffentlichkeit geht, dann sind Schriftsteller natürlich betroffen. Sie wollen ihre Werke schließlich veröffentlichen. Alle „bücherschreibenden Personen“, wie aktuell „Autoren“ definiert werden, drängen an die Öffentlichkeit, sie wollen keinesfalls davon ausgeschlossen werden. Neuerdings scheint es jedoch zwei Öffentlichkeiten zu geben, in denen jeweils verschiedene Schreibgebräuche gelten.
Moment … Das geht nicht. „Öffentlichkeiten“ gibt es nicht im Plural. Das hat das Rechtschreibprogramm von meinem Computer sofort erkannt und entsprechend angemahnt. Öffentlichkeit ist ein Singularetantum. Das sehe ich auch so. „Öffentlichkeiten“ kommt mir falsch vor. Es gibt nur eine Öffentlichkeit.
Also gut – dann haben wir eben nur eine einzige Öffentlichkeit, in der allerdings zwei verschiedene Standards für den Schreibgebrauch gelten. Das erscheint mir genauso falsch.
Bösewichter, Bleichgesichter, Heuchler, Duckmäuser und Denunzianten
Wir kennen das vom Sprechen. Da kann es zu üblen Szenen kommen. Ich erinnere mich, in meiner Jugend von fiesen Bleichgesichtern gelesen zu habe, die sehr zum Missfallen von Winnetou mit „gespaltener Zunge“ gesprochen haben. Das waren die Bösen. So sollte man nicht sprechen. Wir kennen es auch vom Predigen. Erinnert sei an die üblichen Verdächtigen, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken. Das ist verlogen und betrügerisch, das sollte man lieber nicht tun. Pfui! Und wir kennen es vom Flüstern der Duckmäuser, vom Sprechen hinter vorgehaltener Hand; wenn wir – wie wir es heute tun – im privaten Kreis anders reden als in Zusammenhängen, bei denen wir fürchten müssen, dass ein missgünstiger Lauscher mithört, etwas in den falschen Hals kriegt und versucht, uns zu schaden. Das ist schlimm. Das sind Zustände wie in einer Diktatur, in der die Freiheit verloren gegangen ist. Pssst!
Das gab es bisher beim gesprochenen Wort. Dass nun auch beim geschriebenen Wort – also beim Schreiben – eine Spaltung eingeführt werden soll, ist neu, und das ist gar nicht gut. Dann haben wir genau die beklagenswerten Zustände, wie wir sie beim Sprechen im Kontext von Verbrechen, Heuchelei, Unterdrückung und Denunziation haben, auch beim Schreiben. Dann haben wir es schriftlich. Deshalb war auch stets vom „Schreibgebrauch“ die Rede.
Wie passt das zusammen?
Das kam mir gleich verdächtig vor. Vielleicht haben Sie „Schreibgebrauch“ gelesen und gedacht, dass damit „Sprachgebrauch“ gemeint ist. Das passiert leicht. Mit einem alleinstehenden Schreibgebrauch fremdeln wir noch. Wir kennen natürlich die Zweierpackung: „Sprach- und Schreibgebrauch“. Die leuchtet sofort ein. Beides gehört zusammen. Es geht darum, wie man spricht und wie man es schreibt. Mir war sofort verdächtig, dass hier der Schreibgebrauch unabhängig vom Sprachgebrauch auf einem Bein hüpfend ins Feld geführt wurde. Kann man denn die beiden Elemente voneinander trennen?
Wohl nicht. Andererseits beziehen sich die beiden Teile aus dem Doppelpack nicht so reibungslos auf einander, als hätten wir es mit zwei Bierdeckeln zu tun, die man deckungsgleich übereinanderlegen kann, so sehr wir uns auch eine klare und einfache Zusammengehörigkeit wünschen mögen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch an die umstrittene Lernmethode „Schreiben nach Gehör“, die vor etwa zwanzig Jahren ausprobiert wurde und uns den „Fata“ und die „Muta“ beschert hatten. Ein Irrweg. Eine Studie im Jahr 2013 stellte fest, dass das Experiment zu einer Verarmung des Wortschatzes und zu deutlich größerer Fehlerhäufigkeit geführt hatte (vorher: 7 Fehler aus 100 Wörter/ nachher: 17 Fehler aus 100 Wörter).
Wie predigte einst der Kohlrabi-Apostel?
Dem Scheitern ging bereits ein Scheitern aus den zwanziger Jahren voraus, von dem man offenbar nicht gelernt hat. Wer kennt ihn noch? Der als „Kohlrabi-Apostel“ bekannte Carl Gustaf Adolf Nagel, ein leicht bekleideter Naturmensch, Wanderprediger, Barfussläufer und Reformer, der sich gemäß seiner eigenen „ortografi“ schlicht „gustaf nagel“ schrieb, hatte sogar eine eigene Partei, die „Deutsche kristliche Folkspartei“, die bei der Reichstagswahl 1924 ganze 0,01 Prozent der Stimmen erringen konnte. Zu seinen Forderungen gehörte eine grundlegende Rechtschreibreform nach dem Motto: „schreibe wi du sprichst“. Nun ja, das war wohl nix. Was allzu schlicht ist, scheitert.
Ich bin übrigens auch ein Opfer der Vorstellung, dass man alles einfach so schreiben kann, wie man es spricht. Wir hatten einen Deutschlehrer, an dem wahrscheinlich ein großer Schauspieler verloren gegangen war. Er hatte eine dermaßen prononcierte Aussprache, dass man bei offenem Fenster vermutlich noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite jeden Konsonanten identifizieren konnte. So hatte ich beim Diktat geschrieben: „Er zock sein Hempt an“. So hatte es der Lehrer gesagt. Mir wurden dafür mehrere Fehler angekreidet, man hat mir diese kleinen Vergehen nicht großzügig als Flüchtigkeitsfehler durchgehen lassen, als Flüchtlingskind hatte ich damals keinen Bonus.
Am Anfang war das Wort – das gesprochene Wort
So einfach ist es also nicht. Dann eben nicht. Und dennoch gehören Sprechen und Schreiben zusammen wie Pech und Schwefel. Wenn vom Sprachgebrauch die Rede ist, denken wir den Schreibgebrauch automatisch mit. Er ist nachgeordnet. Erst kam das Sprechen, dann das Schreiben. Sprachgebrauch war zuerst da. Den pflegen auch Analphabeten, auch wenn es davon keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Der Schreibgebrauch regelt nachträglich, wie wir aufschreiben und festhalten können, was wir gesprochen haben.
Nun haben wir eine neue Situation. Die Reihenfolge ist auf den Kopf gestellt: Der vorgeschlagene neue Schreibgebrauch mit Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt ist nicht aus dem tatsächlichen Sprechen hervorgegangen, sondern aus der Tastatur des Computers aufgestiegen. Die Formel „Schreibgebrauch first, Sprachgebrauch later“ stellt uns vor das Problem, dass wir nicht wissen, wie wir das Geschriebene – das Getippte – aussprechen sollen. Das ist auch nix.
Sprachgebrauch und Schreibgebrauch werden geschieden
Das einbeinige Wort-Ungeheuer „Schreibgebrauch“ ist vergleichsweise neu – doch so neu nun wieder auch nicht. Im Jahr 2013 wurde das Projekt Schreibgebrauch gestartet, im Jahr 2016 wurde es beendet. Es wollte ein Instrumentarium entwickeln, um die „tagtägliche Produktion von Schriftdeutsch für orthografische Untersuchungen auszuwerten“, auf dass sie dem Rat für deutsche Rechtschreibung als „Bausteine für die künftige Normierungsarbeit“ dienen können.
In anderen Worten: Man hat nachgesehen, wie die Leute heutzutage schreiben. Dabei wurden, wie es ausdrücklich heißt, nicht nur „Zeitungen, Zeitschriften und Bücher von ‚professionellen Schreibern‘, sondern auch Schülertexte und Internetbeiträge etwa in Blogs und in Foren“ ausgewertet. Erstaunlicherweise stehen die „professionellen Schreiber“ in Anführungsstrichen, als wollte man sich von diesen Leuten distanzieren.
Genau das hat man auch getan. Denn in der unübersichtlich großen Produktion von Schriftdeutsch in Romanen, Essays und Gedichten – ob von Autoren im P.E.N. oder nicht – wird sich kaum etwas gefunden haben, was dem Rat für Rechtschreibung als Baustein für eine künftige Normierungsarbeit nützlich gewesen sein könnte. Eine Schieflage bei der Gewichtung der Datenlage war da unvermeidlich. Die Literatur von professionellen Schreibern blieb den Germanisten überlassen. Die wiederum haben ihre eigene Terminologie, zu der ein Begriff wie „Schreibgebrauch“ nicht gehört – jedenfalls gehörte er nicht dazu, als ich das studiert habe.
Zwei Spaltungen
Das Projekt Schreibgebrauch wurde besonders bei schriftlichen Äußerungen fündig, in denen die gendergerechte Sprache vorangetrieben wurde, von der es umso mehr gab, je mehr der Journalismus von Frauen dominiert wurde. Je mehr die gendergerechte Sprache durch Gleichstellungsbeauftragte in einer Politik verankert wurde, die grundsätzlich zwischen Frauen und Männern trennt. Die Gendersprache hat sich umso stärker durchgesetzt, je mehr der Nichtgebrauch mit sozialer Ächtung und Nachteilen (beispielsweise an Universitäten) verbunden war. Die Spaltung der Öffentlichkeit, die ich weiter oben beklagt habe, wurde schon an dieser Stelle vorbereitet. Dieses war der erste Streich.
Da speziell Internetforen erfasst wurden, hatte es das Projekt Schreibgebrauch mit Texten zu tun, die Sonderzeichen enthielten, die ohne Rücksicht darauf benutzt wurden, ob sich die neuartigen schriftlichen Produktionen überhaupt in gesprochene Sprache umsetzen lassen. Um Sebastian Krämer aus dem Lied „Deutschlehrer“ (auf das ich gleich näher eingehen werde), zu zitieren: Das Internet wurde zum Ort, „wo die Schriftlichkeit ihre triumphale Renaissance bar jeder Orthographie erlebt, ich kozze ab mit zwei Zett …“ Das also war der zweite Streich. So kam es zu einer weiteren Spaltung – zu einer vom gesprochenen zum geschriebenen Wort.
Nun haben wir den Salat. Mehr und mehr trennte sich das Sprechen vom Schreiben und die „öffentliche Schreibung“, die mit dem Projekt Schreibgebrauch mit unverdächtigen Absichten aus der Taufe gehoben wurde, bereitete auf lange Sicht die Trennung der Öffentlichkeit in zwei Lager – und damit auch die Spaltung der Gesellschaft.
Schlechter Rat muss nicht billig sein
Vielleicht hatten sie noch nie von dem Projekt Schreibgebrauch gehört, aber dass es einen Rat für deutsche Rechtschreibung gibt, in dem auch der oben erwähnte Prof. Dr. Götz tätig ist, haben Sie vermutlich undeutlich in Erinnerung und haben sich womöglich schon gewundert, wieder davon zu hören. Womöglich haben Sie sich im Stillen gefragt: Gibt es den etwa immer noch? Was macht der überhaupt?
Die umstrittene Rechtschreibreform, die uns der Rat seinerzeit eingebrockt hat, liegt ja nun schon ein Weilchen zurück. Richtig. Die gab es 1996. Vor mehr als zwanzig Jahren also. Damals gab es sehr viel Wirbel um die richtige Schreibweise von Worten (Delfin, Nessessär, Wandalismus). Erinnert sich noch jemand? Wenn ja, dann vermutlich ungern.
Sebastian Krämer hat ein dramatisches Lied zu dem Thema geschrieben, aus dem ich schon zitiert habe. Es hatte trotz seiner ungewöhnlichen Form erstaunliche Popularität gewonnen. „Deutschlehrer“, schimpft er, „ihr hättet die neue Rechtschreibung verhindern können …“ Wie wir inzwischen wissen, haben sie es nicht getan. „Schande über euch, Schande, Schande …“ Lange ist es her. Wie lange, sieht man u.a. daran, dass in einem kurzen Schwenk ins Publikum Kurt Beck (wer war das noch?) zu erkennen ist.
Der Sprachfrieden hat nicht lange gehalten
Im Jahre 2004 wollte der Rat für deutsche Rechtschreibung, wie es hieß, „Sprachfrieden“ herstellen, denn es herrschte bereits ein regelrechter „Rechtsschreibkrieg“; der Duden wurde als „das meistgehasste Buch“ bezeichnet. Zu den Friedensangeboten, die schließlich im Jahr 2017 verkündet wurden, gehörte es, dass bei der „Goldene Hochzeit“ das vorangestellte „Goldene“ weiterhin großgeschrieben werden kann, dass es Yoga heißt und nicht „Joga“, und dass der Grizzlybär auf die Schreibweise „Grislibär“ verzichtet. Es war auch das Ende der Majonäse. Mayonnaise schreibt man nun weiterhin so, wie sie schmeckt. Nun war Frieden. Die Wellen sind geglättet.
Die Rechtsschreibreform sieht man heute als Unglück, an das man nicht dauernd erinnert werden möchte. Die Luft ist raus. Günter Grass – damals wohl das prominenteste Mitglied im P.E.N. und einer der schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform – lebt nicht mehr. Wir haben uns zähneknirschend an die Folgen dieser Reform gewöhnt. Das Publikum wünscht sich zwar immer wieder das Lied „Deutschlehrer“ als Zugabe, doch Sebastian Krämer hat keine rechte Lust, dem Publikum den Gefallen zu tun. Auch er hat mit dem Thema abgeschlossen. Die Luft ist raus. Jedenfalls war sie eine Zeit lang raus.
Nun ist die Luft wieder drin. Heiße Luft. Wer nach dem historischen Sprachfrieden anno 2017 gedacht hatte, dass wir bei der Rechtsschreibreform noch mal mit einem blauen Auge davongekommen seien und dass es alles noch viel schlimmer hätte kommen können, steht jetzt als blauäugig da: Es kommt noch schlimmer. Der Rat für Rechtschreibung ist wieder da – da, wo er nicht hingehört.
Wenn es schlechte Schüler gibt, wie schreibt man das richtig?
Die Empfehlungen, um die es nun geht, gehören nämlich nicht in den Zuständigkeitsbereich des Rates Rechtsschreibung, auch wenn immer wieder von „Schreibung“ die Rede ist. Das lässt sich leicht zeigen. Eine Frage der Rechtschreibung wäre es, wenn wir festlegten, dass die Schreibweise „Schühler“ nicht korrekt ist, auch „Schüla“ nicht – was an das berüchtigte Methode „Schreiben nach Gehör“ erinnert.
Nach dem zur Debatte stehenden Empfehlungen zum gendergerechten Schreibgebrauch sieht es jedoch anders aus: Die „Schüler“ würden dann zu „Schülerinnen und Schüler“, zu „Schüler*innen“, zu „Schüler_innen“, „Schüler:innen“ oder „SchülerInnen“. Oder zu „zur Schule Gehende“, auch wenn sie zu Hause bleiben müssen. Inzwischen sind auch „Vater“ und „Mutter“, die kurzzeitig nach Gehör zu „Fata“ und „Muta“ mutiert waren, durch „Elter 1“ und „Elter 2“ ersetzt worden. Erkennen Sie den Unterschied? Wir haben es hier nicht mit einer neuen Rechtschreibreform zu tun.
Es geht keinesfalls um Rechtsschreibung, sondern um inhaltliche Vorentscheidungen zu Geschlechterfragen, die in die „öffentliche Schreibung“ implementiert werden sollen, um weitere Diskussionen zu dem Thema abzuwürgen.
Wenn ich das Fleisch nicht essen will, mag ich auch nicht über das Dressing reden
Hier zeigt sich, wie tückisch die Betonung auf „Schreibung“ und die Vermeidung des Wortes „Sprache“ war. Damit wurde so getan, als ginge es um eine eher unbedeutende Frage der Rechtschreibung, obwohl es in Wahrheit um die Einführung der gendergerechten Sprache geht, die uns feministische Denkmuster vorschreiben will.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Vegetarier und würden regelmäßig in ihrem Lieblingslokal zum Mittag essen. Eines Tages sagt der Kellner: „Das Fleisch, das Sie bestellt haben, kommt gleich. Welches Dressing möchten Sie: Knoblauch, Kräuter oder Mayonnaise?“ Dann sagen Sie hoffentlich: „Ich will nicht über das Dressing mitbestimmen dürfen, ich habe das Fleisch nicht bestellt und will es auch nicht essen.“
So lautet auch meine Antwort als Mitglied im P.E.N.: Über die Schreibweise von der Mayonnaise lasse ich gerne mit mir reden, da halte ich mich an das, was die Öffentlichkeit am besten versteht, doch ich will die gendergerechte Sprache nicht, die unter der falschen Flagge der „öffentlichen Schreibung“, mit der signalisiert wird, dass es sich lediglich um ein nachgeordnetes Problem der Schreibung handelt, abgesegnet werden soll, so dass man nachher in aller Bequemlichkeit sagen kann: Ja, ja, es gab da schon einige kritische Stimmen, aber eine Befragung der „Kolleginnen und Kollegen“ hat wichtige Bausteine ergeben, die der Rat für Rechtschreibung nun in seine Arbeit einbeziehen kann. Er kann nun Empfehlungen geben, die viel mehr als Empfehlungen sind, sondern Öl im Feuer.
Die Spaltung wird vertieft. Die Stimmung wird gereizter
Ich fürchte, dass es genauso kommen wird. Herr Götze ist, wie gesagt, Mitglied im Rat für Rechtschreibung, ebenso in der ArbeitsgemeinschaftGeschlechtergerechte Schreibung und außerdem im P.E.N. Er kann alle Türen aufhalten, damit ein Durchzug entsteht und die gendergerechte Sprache kräftig Wind in die Segel kriegt.
Dabei kann man jetzt schon erkennen, dass sich die Spaltung dramatisch zuspitzt, dass ein Diskurs immer schwieriger wird. Die Markierungen der „öffentlichen Schreibung“ sind längst zu Erkennungszeichen geworden, um nach dem armseligen Aschenputtel-Prinzip (die Guten ins Töpfchen …) die Gesellschaft zu spalten.
Wer die „öffentliche Schreibung“ nicht nutzt, gehört zu denen, auf die man mit dem Finger zeigt. Zu denen, die ausgestoßen werden. Zu denen, die man als zumindest rechtsgerichtet, wenn nicht gar als Gefahr für die Demokratie beschimpfen und wegen Diskriminierung verklagen kann. Eine Sprech- und Schreibweise, die sich frei hält von den Erkennungsmerkmalen der gendergerechten Sprache, gilt als „AfD-Sprech“.
Henning Lobin warnt uns: „Die ‚Neue Rechte‘ missbraucht die deutsche Sprache.“ Dabei besteht der Missbrauch hauptsächlich darin, dass die ‚Neue Rechte‘ sich der Gendersprache verschließt. Dahinter stecke, so Lobin, eine politische Agenda. „Die Ablehnung einer Gendersprache“, erklärt er, „stehe für eine traditionelle Vorstellung von Familie und Gesellschaft allgemein“. Das ist schlecht. Jedenfalls in seinen Augen.
Ich gehöre zu den Kritikern
Ich fürchte, dass es genauso kommen wird, wie ich beschrieben habe, weil Herr Götze mit einer deutlichen Vorentscheidung an die Sache herangegangen ist. Er nutzt demonstrativ die Doppelnennung und schreibt wiederholt „Kolleginnen und Kollegen“, was übrigens nicht alle im P.E.N. tun; manchmal kriegt man auch Schreiben, in denen die Kollegen „Kollegen“ genannt werden.
Auch die damalige Präsidentin Doris Ahnen im Rat für Rechtschreibung befand, dass der Rat in seiner Zusammensetzung eine hohe Pluralität aufweisen kann, was sie als „faires Angebot insbesondere an die Kritikerinnen und Kritiker“ bezeichnet hat. Ich verstehe das so, dass Kritik willkommen ist, sofern die Doppelnennung beibehalten wird, an die sich die meisten inzwischen gewöhnt haben (ich nicht).
Ich gehöre zu den Kritikern, die sich in einer Gruppe finden, die sich einfach „Kritiker“ nennt und in der es egal ist, welche geschlechtliche Identität jemand hat, der sich zu welchem Thema auch immer äußert.
Ich will einen Vorschlag zur Güte machen. Eingangs erwähnte ich, dass es in dem Fragebogen zur „öffentlichen Schreibung“ hieß , dass das literarische Schreiben „nicht betroffen“ ist.
Ein Attest für Literaten
Hier nun mein Vorschlag: Der P.E.N. stellt für seine Mitglieder ein Attest aus, das auch andere Schriftsteller beantragen können, die sich dem literarischen Schreiben verpflichtet fühlen. Denen wird bescheinigt, dass sie vom gendergerechten Schreibgebrauch befreit sind und in ihrer literarischen Arbeit, in ihren persönlichen sowie in allen sonstigen an die Öffentlichkeit gerichteten Schreiben ein und dieselbe Schreibung benutzen dürfen.
Dieses Attest könnte auch auf dem Handy geladen werden, so dass jeder, der so ein Freistellung hat, in Diskussionen, in denen die „öffentliche Schreibung“ der gendergerechten Sprache auch im Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt, sich nach dem Vorzeigen des Attestes zu Wort melden und sich damit auf eine Art und Weise einbringen und kann, wie es zu seinen literarischen Arbeiten passt.
Spätestens jetzt hat es jeder mitgekriegt: Die Cancel-Culture verbreitet sich exponentiell und geht inzwischen so weit, dass sogar der mächtigste Mann des freien Westens aus den sozialen Netzen rausgeschmissen wird und selbst ihm, wie es immer heißt „keine Bühne“ mehr geboten werden soll. Nicht nur ihm nicht. Nicht erst seit dem 6.1. nicht. Man kommt kaum noch nach, die Fälle zu dokumentieren. Einer versucht es immerhin, Woche für Woche. Die FAZ spricht von 70.000 Twitter-Konten, die neuerdings gelöscht wurden. Wegen Verschwörungstheorien. Dazu gehört auch Kritik an Biden und der Verdacht, dass es einen Wahlbetrug gegeben haben könnte.
Um welche Fragen geht es?
Was steckt dahinter? Beim Kampf um die Redefreiheit geht es nicht etwa darum, wer reden darf und wer nicht. Es geht tiefer. Es geht in Wirklichkeit um zwei Fragen – um die Frage, ob ein Individuum überhaupt die Voraussetzung hat, verständlich zu kommunizieren und um die Frage, welchen Wert so eine Kommunikation haben kann.
So sieht es jedenfalls Jordan Peterson und er erklärt es in einem kurzen Ausschnitt – von min 36.05 bis min 39.42 – aus einem langen Interview. Die deutschen Untertitel, die recht hilfreich sind, müssen Sie selber einstellen (an dem kleinen Rädchen in der Unterzeile). Es ist mir nicht gelungen, den Auszug so zu verlinken, dass die deutschen Untertitel automatisch übernommen werden.
Wie lautet die Antwort?
Wie lautet denn nun die Antwort, wie sie die postmodernistisch denkenden Studenten von heute auf diese beiden Grundsatzfragen geben? Sie lautet nicht etwa: Nein, ein Individuum kann gar nicht verständlich kommunizieren und eine solche Kommunikation hat sowieso keinen erkennbaren Wert – schlimmer noch: Sie tun so, als ob es so etwas wie ein Individuum überhaupt nicht gäbe. Grundsätzlich nicht. Die Abschaffung des Individuums ist in ihrem Denken bereits vorausgesetzt.
Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine „freie Rede“ geben müsste, ist in den Augen der cancel culture worriors abwegig. Denn die Wertschätzung der freien Rede beinhaltet die Überzeugung, dass jeder von uns tatsächlich etwas zu sagen hat, dass jeder einzelne einen eigenen Wert hat, der seine einzigartige Individualität ausmacht. Die Existenz des Individuums wird aber grundsätzlich abgestritten. Es gilt nur noch die Zughörigkeit zu einer Gruppe – oder zu mehreren Gruppen.
Es geht damit um die tragenden Säulen der westlichen Werte
Damit entfällt auch die Vorstellung, dass durch den fairen Austausch von Positionen die Voraussetzung für sozialen Frieden geschaffen und eine gemeinsame Wahrheitssuche gestartet werden kann. Es geht also um nichts weniger als um die Grundpfeiler der so genannten westlichen Werte, um das Regelwerk unserer Zivilisation. Der „Krieg“, der „kulturelle Bürgerkrieg“ – oder wenn man es nicht zu drastisch haben will: der „Kampf der Kulturen“ – ist zugleich ein politischer, ein philosophischer und ein theologischer Kampf; einer, mit dem ein totalitäres System etabliert wird.
Wenn ich das in meinen Worten zusammenfasse, klingt es vermutlich weniger überzeugend, nicht so fundiert und anspielungsreich. Jordan Peterson kann es besser. Die deutschen Untertitel müssten obendrein noch mit Fußnoten angereichert werden. Wer nicht sowieso schon im Bilde ist, möchte womöglich eine Pause einlegen und ab min 37:50 beim Stichwort „Derrida“ kurz innehalten: Jacques Derrida, Logozentrismus, Phallogozentrismus.
Gruppen reden nicht miteinander. Wozu auch?
Doch das muss nicht sein. Es geht auch so. Halten wir fest: Wenn es sowieso kein Individuum gibt, dann brauchen wir auch keine freie Rede, denn alles, was jemand dann noch ist, besteht nur noch darin, dass er lediglich ein weiteres Mitglied irgendeiner Gruppe ist (ein Avatar), dessen Stimme genauso gut durch die von jedem anderen aus seiner Gruppe ersetzt werden kann.
Es besteht bei einer Gruppe überhaupt nicht das Interesse, jemandem zuzuhören, der nicht der eigenen Gruppe angehört. Zumal ein starker innerer Zusammenhalt solcher Gruppen, die sich sowieso erst neuerdings gebildet haben, nicht wirklich gegeben ist und ein Zusammenhalt hauptsächlich durch die Gegnerschaft zu anderen Gruppen aufgebaut wird (das habe ich in meinen Worten hinzugefügt, das sagt Jordan Peterson an dieser Stelle nicht so). Es findet jedenfalls kein fruchtbarer Austausch von Meinungen und Positionen mehr statt; jede Debatte wird automatisch zu einem reinen Machtspiel, in dem es nur noch darum geht, den anderen zu demütigen.
Die Wölfe sind wieder da
Ab min 38.28 lässt der deutsche Untertitel zwei Fragezeichen aufleuchten. Das Wort, das an dieser Stelle fehlt, lautet: „Hobbesche“. Der Hobbesche Albtraum, um den es hier geht (Thomas Hobbes, Homo homini lupus) markiert die gegenteilige Position zu der berühmten Vorstellung von Rousseau, dass der Mensch – besonders der Edle Wilde, der noble savage – grundsätzlich gut ist. Hobbes dagegen sieht in seinem ebenfalls berühmten – wenn auch nicht so beliebten – Albtraum den Menschen als Wolf, der zum Wolf des nächsten Wolfes wird. Heute geht es jedoch nicht mehr um den Kampf „Wolf – vs – Wolf“, sondern um „Rudel – vs – Rudel“. Durch die zerstörerische Kraft des Mobs wird das Licht der Aufklärung in sein Gegenteil verkehrt, die Wahrheit wird zur Gegen-Wahrheit, der Traum von der Eigenständigkeit des Menschen und seinem besonderen Wert wird zum Albtraum.
Es reicht, wenn Sie sich das Video bis min 39.42 anhören. Dann rauscht ein Zwischen-Applaus auf, als Jordan Peterson erklärt, dass ihn Studenten hassen, die in der kollektivistischen Weltanschauung gefangen sind. Vielleicht haben Sie aber Lust, das ganze Interview mit Dennis Prager bis zum bitteren Ende anschauen, wenn Peterson schließlich mit den Tränen kämpft und verliert.
Die Menschen sind nicht gut
Petersons Stimme machte schon von Anfang an den Eindruck, als wäre er nah am Wasser gebaut. Für meinen Geschmack ist der Ton des Gastgebers etwas zu feierlich: Er stellt Peterson mit dermaßen salbungsvollen Worten als „guten Menschen“ vor, dass der sofort auf die Bremse treten muss. Doch damit wird ein wunder Punkt angesprochen und am Ende des Gespräches wird schließlich die Wunde deutlich. Dennis Prager berichtet seinerseits davon, wie ihn strenge jüdisch-christliche Einflüsse schon in früher Jugend davon abgehalten haben, Menschen für grundsätzlich gut zu halten.
Video kills the radio star
Zum Schluss geht es um den spektakulären Medien-Erfolg von Peterson, der sich zumindest teilweise mit dem Video-kills-the-radio-star-Effekt erklären lässt: Denn nicht nur Petersons Reden sind weltweit verbreitet, auch Bilder von ihm sind es. Er wird nun überall auf der Welt auf der Straße erkannt. In einem frühen Podcast erkläre ich den Gutenberg-Effekt des gesprochenen Wortes. Es kommen noch die bildhaften Eindrücke hinzu.
Im Jahr 1964 war es noch nicht so, dass sich Bilder so weit verbreitet hatten wie Töne. Das mussten die Beatles feststellen, als sie, um die Werbung für ihre Konzerte anzukurbeln, die Champs-Élysées auf- und abliefen in der Hoffnung, damit einen Menschenauflauf und womöglich eine Pressemeldung zu provozieren, wie wir es Jahre später in dem Film ‚Let It Be‘ vorgeführt kriegen – vergeblich. Sie wurden nicht erkannt, es gab so gut wie keine Autogrammwünsche und die Jungs fragten sich, wo eigentlich all die legendären jungen Schönheiten stecken, die man in Paris vermutet.
Der einzelne und das Massenmedium
Peterson dagegen wird erkannt, wo immer er hingeht, ob in einen Gemüseladen oder in ein Elektrogeschäft. Es halten sogar Autos an, weil die Fahrer ihn erkannt haben. Er ist ein Popstar ohne Musik. Die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung von Bildern ließen ihn – um eine Formulierung von Günther Anders zu bemühen – in die „höhere Sphäre der Serienprodukte“ aufsteigen. Warum sprechen wir von einer höheren Sphäre? Weil durch massenhafte Reproduktion bei gleichbleibender Qualität die „Malaise der Einzigartigkeit“, mit der wir als fragiles Individuum geschlagen sind, scheinbar überwunden wird, als wäre jemand geradezu unsterblich geworden, wenn er so oft wie möglich fotografiert wurde und sich die Bilder so weit wie möglich verbreitet haben. Ein Medienstar wird so zu einem Phantom, zu einem Zwischenwesen zwischen Mensch und Bild.
Doch Petersons Rolle als Medienstar beißt sich mit dem Kern seiner Botschaft von der Einzigartigkeit eines jeden von uns und vom „göttlichen Funken“, den ein jeder in sich trägt. Für eine derartig sensible Person ist es eine glatte Überforderung, wenn sich die Welten berühren. Man konnte eigentlich damals schon vermuten, dass er demnächst unter einer übergroßen Last zusammenbrechen und auf irgendeine Art und Weise krank werden würde. Das kann man im Nachhinein leicht sagen, doch seine Dünnhäutigkeit war schon früh offensichtlich.
Glücklicherweise ist er wieder genesen. Unglücklicherweise ist die Cancel Culture inzwischen auf das nächste Level aufgestiegen.
„I’ve never been to Africa, but it comes up in my dreams…“
Ich war tatsächlich noch nie in Afrika gewesen, als ich Raphael Schell in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts – So lange ist das her! – bei einer off-documenta-Ausstellung in Kassel traf. Er hatte seine Erlebnisse auf großen Bildern festgehalten, aus dem Gedächtnis, auf Bauplatten, auf die er ein Stück Leinwand getuckert hatte.
Die Bilder hatten ein Geheimnis; es fehlten die Menschen. Es sah aus, als wären es Tatorte, von denen man hastig alle Leichen weggeschafft hat, um ja keine Spuren zu hinterlassen. Alle Bilder mussten noch erklärt – oder sagen wir mal: sie mussten noch illustriert werden, auch wenn sie schon bunt waren.
Raphael fing an zu erzählen:
Vor mehr als zwanzig Jahren war er Mitglied einer gewaltfreien Aktion, die verbotene Bücher auf einem Segelschiff nach Namibia bringen wollte, um so die Unterdrückung durch Zensur und Apartheid anzuprangern und letztlich zu Fall zu bringen. Er hatte ihm noch den Belegnagel von seinem geliebten Schiff, der Golden Harvest. Er hielt immer noch Nachtwachen.
Auch als er mir seine Erlebnisse auf etwa 40 Kassetten gesprochen hatte (was ich an dem Rand der psychischen Erschöpfung brachte), war er lange nicht fertig. Er lebt in Kassel, aber ist immer noch in Afrika.
Weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, hab ich ihm den Stoff abgekauft – richtig mit Vertrag und Geldüberweisung. Es hat nicht viel genützt. Ich konnte lange nichts darüber schreiben.
Weil Raphael immer noch nicht über Lagos, nicht über San Antonio hinweg war. Es war zu viel für ein einziges Leben. Dabei war er noch jung gewesen, voller power, love and energy, nicht mal volljährig. Er kommt aus dem Landesinneren und liebt das Meer- wie wir alle, mehr oder weniger. Bei ihm war es etwas mehr. In seiner Familie wurde schon gespottet, dass er ein Opfer der Schlager von Freddy Quinn geworden ist. So wurde er zum Jungen, der nicht so bald wiederkam.
Ich habe noch einen Überlebenden getroffen. Hans lebt in Berlin. Man kennt ihn vielleicht vom Sehen: Er stand immer nachts am Bahnhof Zoo mit der neuesten Ausgabe der „taz“. Hans spricht nicht so viel wie Raphael. Er hatte so viel erlebt, dass er nicht einfach zurück nach Deutschland kommen konnte, nach allem was passiert war. Immerhin hatte er eine Kiste mit Briefen, Zeitungsartikeln und Protokollen aufgehoben.
Darin sind die siebziger Jahre protokolliert – es ist meine Zeit, ich war auch so jung wie die Helden damals. Ich erinnere mich noch sehr an all das politisch Denken und Träumen. Damals gab es das Wort „Gutmenschen“ noch nicht, aber „relevant“ und „Spätkapitalismus“. Ich bin auch Kriegsdienstverweigerer. Mit der Mappe von Hans war es nicht mehr nur die Geschichte von Raphael, sondern: talkin‘ about my generation.
Natürlich liebe ich Bücher – ich war sofort überzeugt von diesem book project und hätte da selber gerne mitgemacht, wenn ich es gewusst hätte. Es ist eine wunderbar poetische Idee: Auf einem Segelschiff reisen junge Menschen aus verschiedenen Nationen in Richtung Namibia – mit Büchern an Bord. Ein friedliches Bild. Doch die Bücher sind Sprengstoff.
Wenn Südafrika, das den Hafen von Walfish-Bay beanspruchte, diese Bücherspenden an Land ließe, wäre ihr Unterdrückungssystem von Kontrolle und Zensur eingebrochen wie ein Damm, der ein Leck hat. Wenn sie dagegen die Einfuhr verweigerten, was sie eigentlich nicht könnten, zumal die Crew eine UN-permission hatte, würde sich Südafrika vor der Weltöffentlichkeit blamieren. Letztendlich könnte man die Menschen sowieso nicht davon abhalten, Bücher zu lesen.
So wie Donovan bekanntlich einen Aufkleber auf der Gitarre hatte THIS MACHINE KILLS (von Woody Guthrie abgeguckt, bei dem es der Zusatz FASCISTS gab); um die Gefährlichkeit solcher Lieder wie ‚Universal Soldier‘ zu betonen, so könnte so ein Sticker auch auf so manchem der Bücher geklebt haben (deren Besitz mit fünf Jahren Gefängnis bestraft wurde) – Bücher, die im Schafspelz einer non-violent action, Fahrt aufgenommen hatten Richtung Namibia.
Doch es genügt nicht, Bücher zu lesen. Sie verführen einen ja, selber etwas zu erleben und die Welt kennen zu lernen. Zuerst war ich in The Gambia. Mir war sofort klar, dass ich da noch mal hin muss. Da wieder diese Intensität wie von den Kassetten von Raphael – es war alles too much, mehr, als ich hätte träumen können: Es war zu heiß, alles ging viel zu langsam; die Menschen kamen einem zu nah, man musste sie einfach lieben und fürchten.
Als Schriftsteller hat man eine Einsamkeit, über die ich an dieser Stelle nicht lamentieren will – nur so viel: Wenn man versucht, in Afrika alleine zu reisen, kommt man nicht weit. Ich habe es versucht. Zuerst in Togo. Es war gerade Valentinstag. Ich freundete mich mit einem Mann an, der – zufällig – auch Valentin heißt. Mit ihm war ich im Hafen und bereiste Benin. Er braucht dringend Geld, er nimmt auch Gebrauchtwagen. Also, falls zufällig jemand …
Es kam noch schlimmer. Lagos erreichte ich mit Verspätung gegen die dringende Empfehlung des ‚lonely planet‘-Reiseführers, der lapidar bemerkt: „Don’t arrive at night!“ Ich hatte mich vorbereitet und verschwiegen, dass ich Schriftsteller bin, aber ich hatte mir nicht vorgestellt, dass sie mich verhören würden wie ein Verbrecher. Mein Gepäck wurde nur deshalb nicht gefilzt, weil es gar nicht da war.
Ein Uniformierter brüllte mich an – (offenbar der normale Umgangston): „I give you one advice: go back now!“ Dann lauter, als wäre ich begriffs-stutzig: „I told you to go back now!“ Es gab Warnungen, dass man kein Trinkgeld geben dürfte (ich hatte extra Dollars in den Schuhen) – Defaulters will be arrested. Was nun? Meine erste Nacht verbrachte ich auf dem Sofa der Drogenfahndung. Am Morgen hatte ich neue Freunde, die mir versicherten, dass Jesus mich liebt.
Fela Anikulapo Kuti wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen und war wieder in den Schlagzeilen, wie damals, als das schwarze Schiff in Apapa einlief. Ich habe seinen Laden aufgesucht und sein Buch ‚Why Blackmen Carry Shit‘ gekauft. Man durfte sich nicht setzen und nicht länger als 10 Minuten der Musik zuhören. Es war auch nicht gestattet, politische Diskussionen zu führen. Sein Shrine war nicht zugänglich, der ganze Compound war von Polizisten umstellt.
Später war ich in Cape Town – im ehemaligen Feindesland. Hier gibt es inzwischen so eine Bibliothek mit Büchern zur wahren Geschichte, mit true african thinking, black heritage – Bücher, die dem neuen Afrika zur eigenen Identität verhelfen können. So wie es Fela Kuti gefordert hat und vor ihm schon Dr. Kwame Nkrumah. Hier war genau so eine Freiheitsbibliothek, wie sie die Friedenspiraten so gerne schon in den 70er Jahren errichtet hätten.
In einem Internet-Café habe ich gleich nach den beiden peace-ships suchen lassen, nach ‚Golden Harvest‘ und ‚Fri‘ (die auch vor Mururoa kreuzte und schon in den 30er Jahren Juden aus Deutschland raus brachte). Die Schiffe waren schließlich Vorkämpfer so einer Freiheitsbibliothek. Dann habe ich mich in die kleine Karoo-Wüste zurückgezogen zu Jans Rautenbach, einem Filmemacher, der an vielen Dokumentationen zur Geschichte Afrikas gearbeitet hat.
Es ist noch eine Geschichte aus einer Zeit, in der das Herrschaftswissen (wie man damals sagte) noch in Buchform transportiert werden musste. Da war Zensur noch möglich. Da galt auch das Buch noch etwas.
Das Buchprojekt der Operation Namibia auf den beiden peace ships‚Golden Harvest‘ und ‚Fri‘ war noch eines der letzten großen Auftritte in der Geschichte des Buches so wie wir es kennen …
Ich habe versucht, weitere Überlebenden aufzuspüren. Neuseeland ist klein. Die zweite Stimme am Telefon war die von Anna. Im Buch werden Babyfotos von ihr rumgereicht. Die große Anna hat ihre Poster von der Decke genommen, um für mich ein Moskitonetz überm Bett anzubringen. Sie hat ihren Eltern das Leben gerettet, weil sie ihretwegen die ‚Rainbow Warrior‘ verlassen hatte, eh sie vom Geheimdienst in die Luft gesprengt wurde. Ihretwegen hatten sie auch die ‚Golden Harvest‘ verlassen. Auch rechtzeitig.
Ich war – nach fast sieben Jahren – so gut wie fertig mit dem Manuskript, da kam die Nachricht, dass Kris tot ist. Er hätte das Buch schreiben müssen. Er war der „responsible officer für press and public relation“ (zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, wie man auf deutsch sagt). Er hatte mir noch gefaxt, dass er immer noch davon träumt, so ein Buch zu schreiben, wenn er nicht Wichtigeres zu tun hätte – nämlich den Regenwald zu retten.
Es gab ein meeting REMEMBER KRIS in London. Da kamen sie noch mal alle zusammen. Es war sehr aufregend – und auch ein bisschen gruselig – für mich, all die Figuren aus dem Buch als richtige Menschen zu treffen (aber das gehört wieder zum Thema Einsamkeit des Schriftstellers). Erst wenig später habe ich mich in Tränen aufgelöst.
Das Treffen selber war recht nett: Es gab Nudeln, Weine aus Südafrika, wir haben seine Lieblingssongs aufgelegt, Fotos rumgehen lassen und Videos von Regenwald-Aktionen angeguckt. Es war wie bei einem Kamikaze Bodenpersonal reunion meeting. Ich kriegte das Logbuch der ‚Golden Harvest‘ zum Kopieren; ich habe Jude umarmt, und Barry hat mir vorgeführt, wie leicht er seine fünften Zähne rausnehmen kann (die dritten und vierten hat er in Afrika eingebüßt).
Barry ist übrigens sicher, dass Kris ermordet wurde. Er will demnächst nach Südafrika. Da will er erforschen, ob nicht doch der Geheimdienst bei dem Buchprojekt mitgemischt hat. Denn Operation Namibia – wenn man sich das recht überlegt – konnte eigentlich nicht scheitern. Nun ist jedenfalls ein Buch daraus geworden. So wie ein Buch sein muss: ein Abenteuerroman mit richtigen Menschen.
Schon der Blick auf das Cover hatte mich enttäuscht. Das fängt gar nicht gut an, hatte ich mir gedacht. Und wie geht es weiter? Wie ist die Übersetzung?
Ich nehme mir mal eine Kostprobe aus dem zweiten Kapitel zur Brust, in der es darum geht, dass wir uns selbst erstaunlicherweise schlecht behandeln und beispielsweise Vorschriften von Ärzten in auffälligem Maße missachten. Peterson holt weit aus und schlägt zunächst die Bibel auf.
Zwei Gedanken, die er darin findet, sind uns womöglich nicht geläufig und behandeln die Frage, warum uns ausgerechnet die Schlange die Erkenntnis gebracht haben soll. Das kam so: Die Gefahr durch die Schlange hat uns aufmerksam gemacht und dazu geführt, dass wir eine erstaunliche Fähigkeit, Farben zu unterscheiden, entwickelt haben. Es war gerade diese „gottähnliche Sehkraft“, die es dem Menschen ermöglicht hat, nicht nur reifes Obst zu erkennen, sondern auch die Gefahr durch Schlangen so früh wie möglich auf dem Radar zu haben.
Diese Kraft wurde uns, wie es bei Peterson heißt, „by snake, fruit and lover“ gegeben. Es geht noch weiter. Der geschulte Blick reicht ein Stück weit in die Zukunft hinein. Die Bedeutung der Erkenntnis, die für uns dank der Schlange, dank Eva und dem Apfel möglich wurde, liegt in dem Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, Nacktheit und Sterblichkeit und damit zugleich in der Entdeckung der Zukunft, der zuliebe der Mensch aufgrund seiner neuen Erkenntnisse Opfer bringt.
Wie sagt er das am besten? Peterson legt dazu einen gediegenen Slalom hin zwischen dem hohen Ton der Bibel (eternally sacrifice), einem immer wieder aufblitzenden Hang zur Abstraktion – als Professor kann er vermutlich nicht anders (for all contingencies and possibilities) – und einem gewissen Augenzwinkern, wenn er nahelegt, dass der Mensch womöglich masochistische Neigungen hat und Dornen mag. Es heißt bei ihm:
„God says something akin to this: ‚Man, because you attended to the woman, your eyes have been opened. Your godlike vision, granted to you by snake, fruit and lover, allows you to see far, even into the future. But those who see into the future can also eternally see trouble coming, and must then prepare for all contingencies and possibilities. To do that, you will have to eternally sacrifice the present for the future. You must put aside pleasure for security. In short: you will have to work. And it’s going to be difficult. I hope you’re fond of thorns and thistles, because you’re going to grow a lot of them.’”
Die Übersetzung ist für den Arsch
Ich hatte, bei aller Begeisterung für Petersons Sprache im aparten kanadischen Klangkostüm, stets gewisse Schwierigkeiten mit dem gehobenen Englisch und musste mich erst eingewöhnen. Auch Freunde von mir, denen ich Peterson ans Herz und auf den Nachttisch legen wollte, scheiterten an der Sprachbarriere. Doch nun liegt eine Übersetzung vor. Da lesen wir:
„Gott sagt sinngemäß: „Okay, Kollege, nachdem du die Alte einmal klargemacht hast, siehst du besser. Aber wer sich von Schlange, Frau und Co. helfen lässt, der kann wohl auch in die Zukunft gucken, habe ich recht? Und wer in die Zukunft gucken kann, der sieht auch die ganze Scheiße, die unter Umständen auf ihn zurollt. Aber Vorbereitung ist alles, sag ich mal, und deshalb sollst du von nun an keine ruhige Minute mehr haben. Für alle Zeit wirst du dich bequemen müssen, den wunderschönen Tag von heute einer unsicheren Zukunft in den Rachen zu schmeißen. Kurz und gut, du sollst ackern und rackern und dir den Arsch abarbeiten. Schön ist was anderes, das sage ich dir gleich. Aber vielleicht stehst du ja auf Dornen und Disteln, denn die kriegst du von mir gratis obendrauf. Nur damit du weißt, wo der Frosch die Locken hat.“
Wie kann man das ernst nehmen? Gott labert nicht. Er verwendet keinesfalls Füllsätze wie „sag ich mal“ oder „habe ich recht?“. „Scheiße“ und „Arsch“ gehen gar nicht. Das ist weder der Tonfall von Peterson noch der von Gott. Es ist nicht einmal der Ton der so genannten Volx-Bibeln in Jugendsprache, die dagegen vergleichsweise charmant sind. Es gibt durchaus Beispiele von geglückten Simulationen von Gesprächen mit Gott auf Augenhöhe, etwa die „Zwiegespräche mit Gott“ von Ahne, der damit auf den Lesebühnen Erfolge feiert. Es geht also. Man kann das machen. Doch dann muss man es richtig machen. Selbst an Kabarett-Standards gemessen ist die Version des Peterson-Übersetzers unter aller Sau.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Vokabel „shit“ in Petersons Schriften niemals auftaucht. Bei seinen freien Reden habe ich sie womöglich einmal gehört, als er statt „get your act together“ ausnahmsweise „geht your shit together“ gesagt hat, aber da könnte ich mich getäuscht haben.
Selbst wenn: „shit“ sollte man nicht mit „Scheiße“ übersetzen. Im Deutschen ist „Scheiße“ das ultimative Übelwort, das noch am ehesten dem englischen „fucking“ entspricht. Man würde also „the fucking car broke down“ mit: „Die Scheiß-Karre ist verreckt“ übersetzen – wenn man es überhaupt mit einem Text dieser Sorte zu tun hätte. Doch das haben wir nicht. So schreibt Peterson nicht. Es gibt Blogger, die extra und lustvoll so reden und schreiben. Peterson gehört nicht dazu.
So macht man Gelaber-Rhabarber
Der „Arsch“, den der Übersetzer da eigenmächtig hineingedrückt hat, ist ohnehin eine speziell deutsche Vulgarität, die buchstäblich „für den Arsch“ ist und in einem Text von Professor Dr. Jordan B. Peterson nicht nur unpassend, sondern richtiggehend schädlich ist. Toxisch, wie man in Feministen-Kreisen sagen würde. Es wirkt geradezu so, als wollte man ihm etwas antun und seine Sprache absichtlich niedermachen, seinen Sprachgestus vorsätzlich versauen.
Es steht so nicht im englischen Text. Der Übersetzer ist nicht etwa flüchtig über die Seiten hinweggehuscht. Er hat Extras hineingeschrieben. Er hat sozusagen Überstunden gemacht, um den Text zu verderben. Jedenfalls einer der beiden Übersetzer. Es gibt erstaunlicherweise zwei, die sich abgelöst haben.
An der Kostprobe ist noch mehr falsch; „Scheiße“ und „Arsch“ sind nur die beiden Knaller, die zuallererst ins Auge springen. In Petersons Text gibt es keine Bewertungen. Das ist ein wichtiger Punkt. Schlampige Bewertungen sind eine journalistische Unsitte, die inzwischen weit um sich gegriffen hat und immer weiter um sich greift, die sich bei einer literarischen Schreibweise jedoch verbietet.
Solche Bewertungen hat der Übersetzer mutwillig hinzugefügt. „Gegenwart“ ist im Original nicht etwa der „wunderschöne Tag von heute“, sondern einfach nur Gegenwart, und „Zukunft“ ist keine „unsichere Zukunft“. Im Gegenteil. Die Vorausschau, die das kluge Opfer mit sich bringt, soll ja gerade die Zukunft sicherer machen. Deshalb ist auch das Opfer nicht nur eine überflüssige Angewohnheit aus vergangenen Tagen. Opfer bedeutet so viel wie Planung und Vorsorge. Ein Opfer ist nicht sinnlos und keineswegs etwas, das einem nimmersatten Monster „in den Rachen“ geschmissen wird. Der falsche Zungenschlag verrät, dass auch der Inhalt nicht richtig verstanden wurde.
Ein einziger Brei für zahnlose Problemfälle
So entsteht der Eindruck, dass nicht nur Gott labert. Auch Peterson wirkt durch die Extras und aufgesetzten Flapsigkeiten geschwätziger, als er in Wirklichkeit ist. Die überflüssigen Verzierungen und vorschnellen Bewertungen, die wie Unkraut in seiner Prosa wuchern, lassen einen Plauderton entstehen, der billig und ungepflegt wirkt.
Was ist mit den „Dornen und Disteln“? Auch falsch. Sie sind bei Peterson nicht etwas, das uns Gott „gratis obendrauf“ gibt, sondern vielmehr etwas, für dessen Wachstum und Ausbreitung der Mensch selbst verantwortlich ist. Das ist nicht etwa ein kleiner, sondern ein großer, ein prinzipieller Unterschied. Er berücksichtigt die Frage der Verantwortung und beachtet, wer etwas tut und wem etwas angetan wird.
Doch hier wird wieder die feministische Nebelmaschine angeworfen, die alles in ein lähmendes, aber zugleich autoritäres Passiv einhüllt und keinen Urheber erkennen lässt. Man gerät in einen Modus, bei dem einem alles immer nur irgendwie zustößt; es gibt nichts, dass man selbst in die Hand nehmen könnte. Niemand ist für irgendetwas zuständig oder verantwortlich, die Sprache ist ein einziger Brei für zahnlose Problemfälle geworden und alle klagen, jammern und jaulen, dass sie immer nur Opfer sein müssen. Genau gegen diese Mentalität wenden sich Petersons Ratschläge zur Selbsthilfe.
Sehen wir weiter. Warum behandeln wir uns selbst nicht gut? Um diese Frage zu beantworten, geht Peterson zurück zu der Szene, in der sich Adam sinnloserweise hinter einem Busch versteckt, als Gott ihn ruft, und Adam dabei eine jämmerliche Figur abgibt. Peterson hängt ihm eine ganze Liste übler Eigenschaften an und fragt: Warum sollte man sich um so jemanden kümmern, auch wenn man als Geschöpf Gottes selber „dieses Etwas, dieses Wesen“ (that thing, that being) ist? Da hier Adam als Beispiel herhalten muss, ergänzt Peterson, dass das ebenso für Frauen gilt. Es liest sich bei ihm so:
„Why should anyone take care of anything as naked, ugly, ashamed, frightened, worthless, cowardly, resentful, defensive and accusatory as a descendant of Adam? Even if that thing, that being, is himself? And I do not mean at all to exclude women with this phrasing.“
In der deutschen Ausgabe heißt es:
„Warum sollte er anders mit sich umgehen, wenn er, wie wir gehört haben, so nackt und hässlich, verschämt und verängstigt, so wertlos und feige und mies und link ist wie seither sämtliche Nachkommen Adams? Wobei ich einfach mal so tue, als sei das generische Maskulinum noch gültig. Die Frauen hängen also fein mit drin in dem Schlamassel.“
Auch hier hat sich der Übersetzer im Ton vergriffen. Die kurze Bemerkung, mit der Adam als Ding und Wesen zugleich beschrieben wird, fehlt ganz, und in der umfangreichen Liste der schlechten Eigenschaften werden zwei wichtige unterschlagen: resentful und accusatory. Dabei kommt es gerade auf diese beiden an.
Ressentiment und falsche Beschuldigung
Das Ressentiment, das wir sogleich mit Nietzsche in Verbindung bringen, spielt wenig später bei Kain und Abel eine entscheidende Rolle und taucht bei Peterson immer wieder auf. Es ist so etwas wie ein Leitmotiv; man könnte es mit „Missgunst“ übersetzen. Auch die vorschnelle Beschuldigung anderer – accusatory – spielt eine bedeutende Rolle; in dem Fall war es Adam, der Eva beschuldigt hatte (Dieses Weib, das du mir gegeben …), was Peterson als Verrat des Mannes an der Frau ansieht.
Also: Ausgerechnet die wichtigsten Elemente der Liste der üblen Eigenschaften sind unter den Tisch gefallen. Dafür taucht das „generische Maskulinum“ auf, das da nicht hingehört. Was soll das? „Wobei ich einfach mal so tue, als sei das generische Maskulinum noch gültig …“ – soll das etwa heißen, dass es inzwischen nicht mehr gültig ist? Hier verbeugt sich der Übersetzer so tief und unterwürfig vor einem Modewort des Sprachfeminismus, dass ein Hexenschuss die gerechte Strafe wäre.
Peterson ist auf Welttournee: Amerika, Australien, Südafrika. Er hat es in Europa schon bis Dublin, bis Oslo und Helsinki geschafft, aber noch nicht bis nach Deutschland. Da scheint ein blinder Fleck zu sein. Es gibt in Deutschland keine Willkommens-Kultur für ihn. Hierzulande wird ihm ein schäbiger Fransenteppich ausgerollt. Die deutsche Ausgabe präsentiert ihn als Scharlatan. Sie ist lieblos aufgemacht und hat wahrscheinlich nicht nur die Macken, die ich stichprobenartig aufgezeigt habe.
Erstaunlicherweise fehlen auch die Illustrationen. Dadurch bleiben die Hinweise unverständlich, die sich darauf beziehen – was bei einem sorgfältigen Lektorat aufgefallen sein müsste. Aus dem Klappentext erfahren wir erstaunlich wenig. Dabei gäbe es viel zu sagen. Doch da heißt es nur lapidar: „Mehr zum Autor auf der englisch-sprachigen Webseite“. Ach so. Das muss einem natürlich gesagt werden.
Peterson steht unter strenger, missgünstiger Beobachtung
Es gab schon einige Vorab-Besprechungen, die nicht mehr im grünen Bereich waren. Peterson wurde vorgeworfen, dass er Verschwörungstheorien verbreite (welche auch immer), dass er männliche Privilegien verteidige, dass er gefährlich sei (warum auch immer …, für wen auch immer …), und dass er konservativ sei, womöglich sogar – ganz schlimm – rechts. Außerdem sei das nur Ratgeber-Ramschware, mit der er unberechtigterweise Millionen verdiene.
Dass Peterson übervorsichtig mit seiner Wortwahl ist, ist nicht etwa Besessenheit oder überzogener literarischer Anspruch. Es ist Notwehr. Er steht da wie in einer Krimiszene, in der man jemanden eine Pistole vor die Brust hält und sagt: „Kein falsches Wort! Keine falsche Bewegung!“ Er achtet notgedrungen auf seine Formulierungen. Die Häscher, Denunzianten und Sykophanten, die ihm unbedingt etwas anhängen wollen, stehen Schlange … da ist sie wieder: Die Schlange. Es gibt sie nicht nur im Paradies.
Peterson hat einmal gesagt: „I am very, very, very careful with my words“. Das war eine der raren Gelegenheiten, bei denen er – was er selten tut – ein Verstärker-Wort wie „very“ verwendete – und dann gleich dreimal. Normalerweise ist er streng. Knapp. Präzise. Punktgenau. Gerade das macht seine Texte gut. Der deutschen Ausgabe merkt man das nicht an.
Nach einem sprachlichen Kunstwerk sieht das nicht aus. Nicht auf den ersten Blick. Auch nicht, wenn man genauer hinschaut. Fußball-technisch gesprochen gehört Peterson in die Champions League, in Deutschland lässt man ihn in der Kreisklasse mitspielen.