Worum geht es bei der Cancel-Culture?
Spätestens jetzt hat es jeder mitgekriegt: Die Cancel-Culture verbreitet sich exponentiell und geht inzwischen so weit, dass sogar der mächtigste Mann des freien Westens aus den sozialen Netzen rausgeschmissen wird und selbst ihm, wie es immer heißt „keine Bühne“ mehr geboten werden soll. Nicht nur ihm nicht. Nicht erst seit dem 6.1. nicht. Man kommt kaum noch nach, die Fälle zu dokumentieren. Einer versucht es immerhin, Woche für Woche. Die FAZ spricht von 70.000 Twitter-Konten, die neuerdings gelöscht wurden. Wegen Verschwörungstheorien. Dazu gehört auch Kritik an Biden und der Verdacht, dass es einen Wahlbetrug gegeben haben könnte.
Um welche Fragen geht es?
Was steckt dahinter? Beim Kampf um die Redefreiheit geht es nicht etwa darum, wer reden darf und wer nicht. Es geht tiefer. Es geht in Wirklichkeit um zwei Fragen – um die Frage, ob ein Individuum überhaupt die Voraussetzung hat, verständlich zu kommunizieren und um die Frage, welchen Wert so eine Kommunikation haben kann.
So sieht es jedenfalls Jordan Peterson und er erklärt es in einem kurzen Ausschnitt – von min 36.05 bis min 39.42 – aus einem langen Interview. Die deutschen Untertitel, die recht hilfreich sind, müssen Sie selber einstellen (an dem kleinen Rädchen in der Unterzeile). Es ist mir nicht gelungen, den Auszug so zu verlinken, dass die deutschen Untertitel automatisch übernommen werden.
Wie lautet die Antwort?
Wie lautet denn nun die Antwort, wie sie die postmodernistisch denkenden Studenten von heute auf diese beiden Grundsatzfragen geben? Sie lautet nicht etwa: Nein, ein Individuum kann gar nicht verständlich kommunizieren und eine solche Kommunikation hat sowieso keinen erkennbaren Wert – schlimmer noch: Sie tun so, als ob es so etwas wie ein Individuum überhaupt nicht gäbe. Grundsätzlich nicht. Die Abschaffung des Individuums ist in ihrem Denken bereits vorausgesetzt.
Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine „freie Rede“ geben müsste, ist in den Augen der cancel culture worriors abwegig. Denn die Wertschätzung der freien Rede beinhaltet die Überzeugung, dass jeder von uns tatsächlich etwas zu sagen hat, dass jeder einzelne einen eigenen Wert hat, der seine einzigartige Individualität ausmacht. Die Existenz des Individuums wird aber grundsätzlich abgestritten. Es gilt nur noch die Zughörigkeit zu einer Gruppe – oder zu mehreren Gruppen.
Es geht damit um die tragenden Säulen der westlichen Werte
Damit entfällt auch die Vorstellung, dass durch den fairen Austausch von Positionen die Voraussetzung für sozialen Frieden geschaffen und eine gemeinsame Wahrheitssuche gestartet werden kann. Es geht also um nichts weniger als um die Grundpfeiler der so genannten westlichen Werte, um das Regelwerk unserer Zivilisation. Der „Krieg“, der „kulturelle Bürgerkrieg“ – oder wenn man es nicht zu drastisch haben will: der „Kampf der Kulturen“ – ist zugleich ein politischer, ein philosophischer und ein theologischer Kampf; einer, mit dem ein totalitäres System etabliert wird.
Wenn ich das in meinen Worten zusammenfasse, klingt es vermutlich weniger überzeugend, nicht so fundiert und anspielungsreich. Jordan Peterson kann es besser. Die deutschen Untertitel müssten obendrein noch mit Fußnoten angereichert werden. Wer nicht sowieso schon im Bilde ist, möchte womöglich eine Pause einlegen und ab min 37:50 beim Stichwort „Derrida“ kurz innehalten: Jacques Derrida, Logozentrismus, Phallogozentrismus.
Gruppen reden nicht miteinander. Wozu auch?
Doch das muss nicht sein. Es geht auch so. Halten wir fest: Wenn es sowieso kein Individuum gibt, dann brauchen wir auch keine freie Rede, denn alles, was jemand dann noch ist, besteht nur noch darin, dass er lediglich ein weiteres Mitglied irgendeiner Gruppe ist (ein Avatar), dessen Stimme genauso gut durch die von jedem anderen aus seiner Gruppe ersetzt werden kann.
Es besteht bei einer Gruppe überhaupt nicht das Interesse, jemandem zuzuhören, der nicht der eigenen Gruppe angehört. Zumal ein starker innerer Zusammenhalt solcher Gruppen, die sich sowieso erst neuerdings gebildet haben, nicht wirklich gegeben ist und ein Zusammenhalt hauptsächlich durch die Gegnerschaft zu anderen Gruppen aufgebaut wird (das habe ich in meinen Worten hinzugefügt, das sagt Jordan Peterson an dieser Stelle nicht so). Es findet jedenfalls kein fruchtbarer Austausch von Meinungen und Positionen mehr statt; jede Debatte wird automatisch zu einem reinen Machtspiel, in dem es nur noch darum geht, den anderen zu demütigen.
Die Wölfe sind wieder da
Ab min 38.28 lässt der deutsche Untertitel zwei Fragezeichen aufleuchten. Das Wort, das an dieser Stelle fehlt, lautet: „Hobbesche“. Der Hobbesche Albtraum, um den es hier geht (Thomas Hobbes, Homo homini lupus) markiert die gegenteilige Position zu der berühmten Vorstellung von Rousseau, dass der Mensch – besonders der Edle Wilde, der noble savage – grundsätzlich gut ist. Hobbes dagegen sieht in seinem ebenfalls berühmten – wenn auch nicht so beliebten – Albtraum den Menschen als Wolf, der zum Wolf des nächsten Wolfes wird. Heute geht es jedoch nicht mehr um den Kampf „Wolf – vs – Wolf“, sondern um „Rudel – vs – Rudel“. Durch die zerstörerische Kraft des Mobs wird das Licht der Aufklärung in sein Gegenteil verkehrt, die Wahrheit wird zur Gegen-Wahrheit, der Traum von der Eigenständigkeit des Menschen und seinem besonderen Wert wird zum Albtraum.
Es reicht, wenn Sie sich das Video bis min 39.42 anhören. Dann rauscht ein Zwischen-Applaus auf, als Jordan Peterson erklärt, dass ihn Studenten hassen, die in der kollektivistischen Weltanschauung gefangen sind. Vielleicht haben Sie aber Lust, das ganze Interview mit Dennis Prager bis zum bitteren Ende anschauen, wenn Peterson schließlich mit den Tränen kämpft und verliert.
Die Menschen sind nicht gut
Petersons Stimme machte schon von Anfang an den Eindruck, als wäre er nah am Wasser gebaut. Für meinen Geschmack ist der Ton des Gastgebers etwas zu feierlich: Er stellt Peterson mit dermaßen salbungsvollen Worten als „guten Menschen“ vor, dass der sofort auf die Bremse treten muss. Doch damit wird ein wunder Punkt angesprochen und am Ende des Gespräches wird schließlich die Wunde deutlich. Dennis Prager berichtet seinerseits davon, wie ihn strenge jüdisch-christliche Einflüsse schon in früher Jugend davon abgehalten haben, Menschen für grundsätzlich gut zu halten.
Video kills the radio star
Zum Schluss geht es um den spektakulären Medien-Erfolg von Peterson, der sich zumindest teilweise mit dem Video-kills-the-radio-star-Effekt erklären lässt: Denn nicht nur Petersons Reden sind weltweit verbreitet, auch Bilder von ihm sind es. Er wird nun überall auf der Welt auf der Straße erkannt. In einem frühen Podcast erkläre ich den Gutenberg-Effekt des gesprochenen Wortes. Es kommen noch die bildhaften Eindrücke hinzu.
Im Jahr 1964 war es noch nicht so, dass sich Bilder so weit verbreitet hatten wie Töne. Das mussten die Beatles feststellen, als sie, um die Werbung für ihre Konzerte anzukurbeln, die Champs-Élysées auf- und abliefen in der Hoffnung, damit einen Menschenauflauf und womöglich eine Pressemeldung zu provozieren, wie wir es Jahre später in dem Film ‚Let It Be‘ vorgeführt kriegen – vergeblich. Sie wurden nicht erkannt, es gab so gut wie keine Autogrammwünsche und die Jungs fragten sich, wo eigentlich all die legendären jungen Schönheiten stecken, die man in Paris vermutet.
Der einzelne und das Massenmedium
Peterson dagegen wird erkannt, wo immer er hingeht, ob in einen Gemüseladen oder in ein Elektrogeschäft. Es halten sogar Autos an, weil die Fahrer ihn erkannt haben. Er ist ein Popstar ohne Musik. Die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung von Bildern ließen ihn – um eine Formulierung von Günther Anders zu bemühen – in die „höhere Sphäre der Serienprodukte“ aufsteigen. Warum sprechen wir von einer höheren Sphäre? Weil durch massenhafte Reproduktion bei gleichbleibender Qualität die „Malaise der Einzigartigkeit“, mit der wir als fragiles Individuum geschlagen sind, scheinbar überwunden wird, als wäre jemand geradezu unsterblich geworden, wenn er so oft wie möglich fotografiert wurde und sich die Bilder so weit wie möglich verbreitet haben. Ein Medienstar wird so zu einem Phantom, zu einem Zwischenwesen zwischen Mensch und Bild.
Doch Petersons Rolle als Medienstar beißt sich mit dem Kern seiner Botschaft von der Einzigartigkeit eines jeden von uns und vom „göttlichen Funken“, den ein jeder in sich trägt. Für eine derartig sensible Person ist es eine glatte Überforderung, wenn sich die Welten berühren. Man konnte eigentlich damals schon vermuten, dass er demnächst unter einer übergroßen Last zusammenbrechen und auf irgendeine Art und Weise krank werden würde. Das kann man im Nachhinein leicht sagen, doch seine Dünnhäutigkeit war schon früh offensichtlich.
Glücklicherweise ist er wieder genesen. Unglücklicherweise ist die Cancel Culture inzwischen auf das nächste Level aufgestiegen.