Günther Anders

Das Ungenügen der Anschauung

 

Die Geschichte des Günther-Anders-Lesebuches, das nun unter dem Titel ‚Die Zerstörung unserer Zukunft‘ neu erschienen ist, beginnt 1977 in Hiroshima, wo ich sah, dass ich nichts sah – oder besser gesagt: nicht genug sah.

„In Europa ist alles so groß, so groß, und in Japan ist alles so klein …“, so klang das Lied in mir nach. Das Mahnmal wirkte unangemessen klein, so rührend. Es war geschmückt mit bunten, aus Papier gefalteten Friedenszeichen, Mahnungen, Gebeten, Meditationen, Grüßen. Es sah aus wie ein Kindergeburtstag, der aus irgendeinem Grund ganz furchtbar traurig war.

Es war so unspektakulär. Das Museum, das an den Atombombenabwurf erinnerte, kam mir vor wie eine einzige hilflose Geste. Da waren Schaukästen, die von Überlebenden gestaltet waren, die zeigten Figuren wie aus einem Wachsfigurenkabinett, die eine Puppe durch eine Feuerkulisse trugen, mit Kleidern, die ihnen in Fetzen herunterhingen. In dem Liederbuch mit ‚Songs of Hiroshima’ hatten Kinder geschrieben: „Give back my father. Give back myself.“ Ich guckte mir alles an und kaufte mir an Büchern und Broschüren alles, was ich kriegen konnte, um das in Ruhe nachzulesen und dann vielleicht zu verstehen. Es sollte noch lange nachwirken und dazu führen, dass ich Jahre später die Bücher von Günther Anders lesen und ein Lesebuch mit seinen Texten herausgeben sollte.

Wir hatten Tränen in den Augen. Auch bei unseren japanischen Begleitern glitzerte es hinter der Brille. Jeder schrieb still Postkarten mit einfachen Sätzen, als hätte sich der Stil der Hiroshima-Lieder übertragen. Wir wollten dringend etwas loswerden, das wir immer schon mal gesagt haben wollten, doch bisher hatten wir jede Gelegenheit verstreichen lassen: „Nie wieder Krieg!“ Meine Eltern schrieben an ehemalige Nachbarn und Verwandte aus der DDR; ich an Kommilitonen. Meine Mutter erzählte von der Zerstörung von Zerbst, als Napalm eingesetzt wurde und Menschen auf die Größe einer Puppe zusammenschmolzen. Da war ich noch nicht geboren. Und was ich hier zu sehen kriegte, zeigte mir das Leiden eines Krieges, das ich nicht unterscheiden konnte von dem Leiden, das speziell durch eine Atombombe ausgelöst wird.

Meine Wahrnehmung hatte einen merkwürdig doppelten Boden. Ich sah etwas. Ich fasste es an. Ich trank Wein aus der Region – und gleichzeitig dachte ich, dass das alles nicht sein kann, dass es unwirklich ist. Hiroshima müsste doch auf ewig verstrahlt sein, die Gegend ein einziges Sperrgebiet, das man nicht betreten darf. So eine Vorstellung hatte ich von den Meldungen über Atomversuche, eine Strahlung, die „heller als tausend Sonnen“ ist, verdirbt einen Ort für immer.

Meine Anschauung passte nicht dazu. Wieso konnte ich hier frei herumlaufen? In einer freundlichen Stadt voll junger Menschen. Man sah keine Kriegsfolgen – nicht so wie etwa in Berlin. Das lag wohl daran, dass Städte in Japan sowieso irgendwie provisorisch wirken. Und selbst wenn man Folgeschäden nicht sehen kann, heißt es nicht, dass sie nicht gibt.

Dann erwischte es mich doch, ungekannte Angstgefühle durchfluteten mich. Im Gedränge in der Straßenbahn geriet ich in die Nähe einer Frau, die so alt war, dass sie den Abwurf überlebt haben könnte – falls sie von hier war. Ich wich ihr instinktiv aus. War sie verstrahlt? War das ansteckend? Würde ich jetzt auch krank werden? Oder wurde ich langsam wunderlich? Ich versuchte, eine Berührung – und sei sie noch so flüchtig – auf jeden Fall zu vermeiden.

 

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Nagasaki liegt auf Hügeln verteilt, was die Wirkung der Bombe eingeschränkt hatte. Schon der Name „Nagasaki“ klingt nicht so dramatisch wie „Hiroshima“. Das Unglück von Nagasaki liegt im Windschatten. Günther Anders spricht in dem Zusammenhang von der „Singularität von Nagasaki“ – in Anlehnung an die Singularität von Auschwitz, um hervorzuheben, dass die Massenvernichtung durch einen technischen Apparat auf einer neuen Stufe angekommen war: Die „Notwendigkeit“ des Abwurfs begründete sich allein aus dem Wunsch, eine Bombe auf Plutonium-Basis – statt auf Neutronen-Basis wie in Hiroshima – auszuprobieren. Nagasaki ist eine Stadt mit südländischem Flair. Eine Gedenkstätte gab es da auch – die ließ ich aus. Von Folgeschäden des Krieges und eines Atombombenabwurfes war für einen durchreisenden Touristen nichts zu spüren.

Ich schlief im Krankenhaus. Nicht weil ich mich plötzlich unwohl gefühlt hätte, es lag einfach daran, dass meine japanischen Freunde praktisch veranlagt waren und eine besonders günstige Übernachtung organisiert hatten – wann hat man schon mal ein Bett mit Sauerstoffanschluss?! Der Service würde dann eben an anderer Stelle besser sein. Eine der Nonnen, die da arbeiteten, kam aus dem Münsterland und erzählte am nächsten Morgen von ihren Überlegungen und ihrer Antwort auf die Frage, die sie sich oft gestellt hat: Warum ausgerechnet Nagasaki? Da lebten doch so viele Christen. Ihre Antwort: Ein Christ ist besser auf den Tod vorbereitet.

Und ich dachte, es wäre umgekehrt – wenn man schon verallgemeinert, dann wäre meine Vorstellung, dass Japaner gelassen mit dem Tod umgehen, die sitzen doch ständig auf dem Pulverfass und trotzen den Naturgewalten, den vier Monstern: Vulkanausbrüchen, Taifunen, Überschwemmungen, Erdbeben. Ich sagte nichts, ich hatte eine andere Frage: Wieso war das Krankenhaus unterbelegt? Wo waren all die Kranken, die an den Langzeitschäden litten? Gab es für diese Kranken etwa gesonderte Lazarette? Oder wurden die in ihren Häusern versorgt? Oder gab es die nicht?

Anschauung reicht nicht. Stichproben aus der Wirklichkeit geben kein gültiges Bild. Erfahrung macht dumm. Man sieht nicht mal das, was man weiß. Da muss noch etwas hinzukommen. Es reicht nicht, vor Ort zu sein, Notizen zu machen und zu gucken.

Die Unmittelbarkeit täuscht. Also wagen wir einen Blick hinter die Kulissen des Sichtbaren und begeben wir uns in die Welt der Abstraktion, die allerdings auch ihre Tücken hat.

 

 

 

 

 

Die geheimen Zahlen

Eine Zahl hatte ich mir notiert: die Menge der Toten, die im Jahr zuvor – es war 1977 – an den Spätfolgen des Abwurfs gestorben waren, und zwar 0000. Ziemlich viele. Es schien eine wichtige Zahl zu sein, die ich berechtigterweise nutzen durfte, ich war schließlich selber vor Ort.

Als ich meine Eindrücke aufschrieb, trumpfte ich mit dieser Zahl auf – was mir heute fragwürdig erscheint. Man kann das verstehen: Ich hatte nach jeder sich bietenden Möglichkeit gesucht, das Ereignis als etwas hinzustellen, das so gewaltig ist, dass wir es nicht mehr erfassen können – nicht in Worten, nicht in Bildern, nicht in „nackten“ Zahlen. Deshalb mischte ich auch Träume und Filmklischees in den Text.

Auch als ich den vorlas – bei Aktionen gegen AKWs -, fiel mir immer noch nicht auf, dass mit dieser Zahl nicht das gesagt wird, was ich damit sagen wollte. Und es kamen mir keine Bedenken. Die Zahl ist gemogelt. Denn wir können bei den Menschen, die mehr als zwanzig Jahre nach dem Atombombenabwurf ums Leben gekommen sind, nicht sagen, woran sie gestorben sind. Dass es in allen Fällen Spätfolgen der Bombe sind, ist Spekulation. Die Zahl drückte meinen Wunsch aus, der Sache möglichst große Bedeutung zu geben, sie benennt nicht die tatsächliche Todesursache. Die Zahl bezeichnet „Halbtote“, die einerseits nur „gefühlte“ und andererseits „rein rechnerische“ Tote sind.

Die gesicherte Zahl der Opfer, die direkt danach gezählt wurden, erschien mir beschämend klein (und zwar 0000)  – allein schon im Vergleich zu den Opferzahlen des vorangegangenen Luftangriffes auf Tokio ohne Atombombe (da waren es 0000). Ich wollte für Hiroshima eine möglichst imposante Zahl. Um aber eine echte Zahl zu haben, müsste man im großen Maßstab Langzeit-Erhebungen machen, die zeigen, wie sich das erhöhte Krebsrisiko in erhöhten Krebserkrankungen niedergeschlagen hat – ja, ob es überhaupt feststellbar ist -, beispielsweise im Vergleich zu den Überlebenden in Tokio, von denen in den mehr als zwanzig Jahren danach auch sehr viele gestorben sind, an Krebs, an Verbrennungen und an vielerlei anderen Leiden.

So eine Zahl hatte ich damals nicht. Es gibt sie aber. Es gibt sie auch von Nagasaki und Tschernobyl, was inzwischen auch schon mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Ich kenne sie. Diesmal kommt es mir wirklich so vor, als wären es geheime Zahlen. Ich verrate sie nicht gerne. Ich fühle mich dann wie ein Außenseiter, der andere in ihren Gefühlen verletzt. Ich erscheine herzlos, und mit meinen „nackten“ Zahlen wirke ich wie ein Nudist bei einer Beerdigung. Ich werde niedrig strahlend angefeindet, wenn ich die allgemeine Angst nicht teile, – eine Angst, die nicht konkret werden will. Es wirkt, als hätte ich mir die Zahlen ausgedacht, oder gefälscht. Es wird sofort persönlich; es steht dann nicht etwa die Frage im Raum „Woher stammt die Zahl?“, sondern das Urteil: „Aha, so einer bist du also.“

 

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In Tschernobyl starben nach dem Reaktorunfall 0000 Personen. Zusätzlich erkrankten 0000 an Leukämie. Der Personenkreis, der durch niedrige Strahlungen in Zukunft noch irgendwie betroffen sein könnte, wird auf 0000 geschätzt. Hier gehen die Vermutungen weit auseinander, sie reichen von 0000 bis 0000. Das Unglück in Nagasaki liegt inzwischen so lange zurück, dass man vergleichende Statistik nicht nur über die Krebshäufigkeit, sondern auch über die Lebensdauer hat. Man weiß also, ob die Überlebenden vergleichsweise weniger lang – oder vielleicht sogar länger – gelebt haben. Und? Wie ist es? Es müsste einen doch brennend interessieren. Wir wollen doch wissen, wie groß der Schaden und wie groß die Gefahr ist. Oder etwa nicht? Wenn wir von „rein rechnerischen“ Toten sprechen, sollten wir auch den nächsten Rechenschritt machen, der durch die zeitliche Distanz möglich ist. Sonst bleiben wir bei dem Gefühl stehen. Und damit bei uns. Dann wird die Befindlichkeit zur Selbstgerechtigkeit.

Günther Kunert hat einen Text geschrieben über ein Katastrophen-Szenarium in seiner neuen Heimat Itzehoe. Darin beschreibt er, wie der Bevölkerung das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht, doch in den Nachrichtensendungen wird weiterhin beschwichtigt, das Unglück wird geleugnet. Leider macht der geschätzte Schriftsteller an dieser Stelle einen Fehler. Er hat offenbar immer noch schwer an der Last aus seiner DDR-Vergangenheit zu tragen. Er verkennt die Rolle der Medien, die im Westen ganz anders ist als in einem abgeschlossenen Land, das Meldungen zensieren kann.

Hier und heute wird nicht verharmlost, sondern verschlimmert. Die Nachrichten überbieten sich, überschlagen sich geradezu; sie müssen eine Auslese überstehen, die eine neue Form von Zensur darstellt: Es kommen nur diejenigen Texte zur Kenntnisnahme, die ausgerechnet die schlimmstmöglichen Versionen beinhalten und unsere Ängste bedienen, als dürften nur die Meldungen eine massenhafte Verbreitung erwarten, die auch ein massenhaftes Unglück zeigen, so dass man den Spruch „Wer schreibt, der bleibt“, getrost umwandeln kann in: „Wer schreibt, der übertreibt“.

Geheimgehalten werden nicht die Zahlen, die uns ängstigen würden, sondern Zahlen, die uns die Angst nehmen oder zumindest ins rechte Verhältnis setzen könnten. Die geheimen Zahlen von heute sind die, die der liebe Leser selber eintragen kann, immer da wo 0000 steht. Denn richtig geheim sind die Zahlen nicht. Man kann sie googeln. Ein Journalist oder Politiker wird sie einem nicht sagen. Vielleicht später.

 

 

Die Hände in Unschuld waschen

Die Hände in Unschuld waschen

Der Philosoph Günther Anders, der eigentlich Stern heißt, wurde bekannt durch den Briefwechsel mit Claude Eatherly. Darin erklärt er dem so genannten Wetter-Piloten, der in Hiroshima vorangeflogen war und „nur“ das Signal zum Abwurf geben musste, was er damit angerichtet hatte, und dass sein Leiden – Eatherly war inzwischen in einem Sanatorium – eine menschliche Regung war, die ihn auszeichnet. Anders wollte ihn für die Anti-Atom-Bewegung gewinnen, der Eatherly dann auch symbolisch voranfliegen sollte. In dem Briefwechsel ‚Off limits für das Gewissen’ erklärt er ihm in einfachen Worten die philosophische Dimension der Bombe.

Für mich war das eine Erleichterung. Ein Glück. In Günther Anders hatte ich eine Vertrauensperson gefunden, der mir meine Eindrücke von Hiroshima erklären konnte, und ich hatte einen großartigen Schriftsteller entdeckt. Das gilt nicht so sehr für erzählende Texte wie ‚Kosmologische Humoreske’ oder den ‚Hungermarsch’, er glaubt sogar selber, dass für das Schreiben von Prosa eine gewisse „Unterbegabung“ erforderlich ist; seine Stärke liegt in der Sprachbetrachtung. Darin ist er hochbegabt: Es gelingt ihm, in die Worte „hinein zu horchen“, wie er es nennt, und eine Sprachkritik, die in diesem Fall nicht – wie sonst – konservativ ist, in den Dienst seines Engagements für den Frieden zu stellen und auch philosophisch nicht gebildete Leser mit sprachlichen Hilfsmitteln auszustatten, zu verblüffen und zu erfreuen. Man könnte gut ein kleines Wörterbuch mit Günter-Anders-Stichworten herausbringen, man hätte dann einen Werkzeugkasten griffbereit und könnte bei vielen schief laufenden Diskussionen sofort die notwendigen Reparaturen vornehmen.

Er spricht etwa von der „Apokalypse-Blindheit“, mit der wir geschlagen sind, denn wir sehen nicht die Gefahr, in der wir stehen; und er ermutigt uns zum „Mut zur Angst“. Die Impulse, die uns erreichen, wirken nicht etwa „unterschwellig“ – das wäre so, wenn sie zu klein wären, um eine spürbare Wirkung zu erzielen -, vielmehr sind sie „überschwellig“, also zu groß. Mit solchen Verschiebungen in den Dimensionen können wir nicht umgehen. Arbeiter, die in einer Waffenfabrik bei beschwingter Musik arbeitsteilig irgendwelche Handgriffe erledigen, sind für ihn „Lustmörder“ – schließlich haben sie Spaß bei dem, was sie tun – auch wenn sie die Effekte ihres Tuns nicht überblicken. So erklärt er unsere Defizite aus den Produktionsbedingungen, denn „wir stellen mehr her als vor.“ Diese Differenz ist sein Thema. Um die Kluft zu überwinden, müssten wir verstärkt die Fantasie anstrengen.

Dem gängigen Begriff der „Entfremdung“ stellt er die „Verbiederung“ entgegen, die skandalösen Verkleinerung, der unsere Medien folgen, die uns ein Bild der Welt liefern, das auf neue Art verlogen ist und eine falsche Vertrautheit herstellt: Sie zeigen uns etwa den Präsidenten im Kreis der Familie vor dem Kamin. Und immer sind es die Medien, die mit „dem Duzen anfangen“. Man findet bei ihm – besonders in den Bänden ‚Die Antiquiertheit des Menschen’ – erstaunliche Abhandlungen über Spielautomaten, über unsere „Ikonomanie“ (Bildsucht) und unserer Unterlegenheitsgefühl gegenüber Popstars, die noch tiefer als wir in die vermeintlich „höhere Sphäre der Serienprodukte“ eingedrungen sind, und wir finden immer wieder Wortschöpfungen wie „Dingpsychologie“ oder „negative Protzerei“.

Von ihm stammt der Titel ‚Hiroshima ist überall’, der dann übernommen und abgewandelt wurde zu „Gorleben ist überall“, „Seveso ist überall“, und nun zu „Fukushima ist überall“. Nach dem Störfall in Three Mile Island gab es den Song ‚Everbody Lives In Pennsylvania’, dem dieselbe Idee zugrunde liegt: Es geht uns alle an, es handelt sich bei der atomaren Gefahr um ein weltweites Problem.

Damals sprach noch niemand von Globalisierung. Es ging auch so. Bei ihm kommt der Blick auf die Totale einerseits aus dem philosophischen Vokabular und der damit verbundenen universellen Perspektive, andererseits aus den unmittelbaren Reaktionen auf die Atomversuche, die 1962 einen kritischen Höhepunkt erreicht hatten. Er bezeichnete diese Versuche nicht etwa als „Tests“, sondern zutreffend als „Ernstfälle“. Er hatte die Vorstellung, dass atomare Wolken um die Welt ziehen, wie es auch in dem Protestsong ‚What Have They Done To The Rain’ besungen wird.

Er glaubte nicht an eine „friedliche Nutzung“ von Atomenergie – er traute dem Frieden nicht. Er sah die Gefahr in einem atomaren Schlagabtausch; er steckte noch im Denken der verfeindeten Blöcke und hat den Zusammenbruch des Sozialismus nicht mehr erlebt. Er fürchtete ein letztes Gefecht, einen Atom-Krieg, der leichtfertig – oder versehentlich – ausgelöst wird und dann eine Dynamik entfaltet, die in der Logik der Technik selber liegt und zwangsläufig zur Apokalypse führt, die wir uns grundsätzlich nicht vorstellen können, weil wir uns „das Nichts nicht vorstellen können“.

Man hat ihm vorgeworfen, dass er Fehler gemacht hat und beispielsweise die Wirkung des Fallouts maßlos überschätzt hätte. Ich fand, dass er das durfte. Er war kein Naturwissenschaftler, er war Philosoph – und hatte trotzdem Recht. Die Kritik kam mir kleinlich vor. Was sind schon Zahlen?! Er gab uns mit seinen Beschreibungen eine notwendige Ergänzung zu den Texten der Technokraten. Für die hatte er auch ein passendes Wort: die „blutigen Experten“.

Damit stellt er – typisch für ihn – die Redensart von den „blutigen Laien“ auf den Kopf. Das hat mir gefallen – dennoch: Ein Laie wird damit nicht entschuldigt, auch er kann weiterhin Blut an seinen Händen haben und mit seinen Stümpereien Schäden anrichten. Und ein Experte war Günther Anders in gewisser Weise auch, er sah sich, wie er in den Tagebüchern schreibt, zugehörig zu einer „Avantgarde des Leidens“.

Er war umstritten – zumal er im Alter immer radikaler wurde und eine Gewalt-Diskussion aufflackern ließ, die im Buch: ‚Günther Anders. Gewalt Ja oder Nein. Eine notwendige Diskussion’ dokumentiert wird. Er wärmte noch mal den Spruch „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ auf und spekulierte in seinen ‚Ketzereien’ darüber, ob ein gezieltes Attentat auf Ronald Reagan moralisch gerechtfertigt ist.

Damit hatte ich keine Probleme – ich dachte: Man wird ja wohl mal fragen dürfen. Probleme hatte ich mit dem erwähnten Motto „Mut zur Angst“. Doch das kam erst zeitversetzt, nach und nach. Ich hatte ihn so verehrt, dass ich kaum Einwände zugelassen hätte. Das hätte mir nicht zugestanden, von einer kritischen Auseinandersetzung war ich weit entfernt. Als wir noch gut miteinander waren, hat er mich – scherzhaft natürlich – als seinen „Propagandaminister“ bezeichnet, ich gehörte in seinen Augen wohl zu der jungen Generation, deren Aufbegehren er mit Wohlwollen sah. Er glaubte an den Fortschritt. Die Erfindung der Atombombe ließ sich sowieso nicht mehr rückgängig machen. Er setzte auf neue, subversive Kräfte wie zum Beispiel Hacker. Und auf die neue Protestbewegung.

So wenig ich damals Helmut Kohl schätzte, so musste ich doch zugestehen, dass an dem Spruch „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ – der sowieso nicht von ihm stammt – etwas dran ist. Angst rettet uns nicht. So wie Günther Anders sagt „Hunger reicht nicht, um Hunger darzustellen“, so kann man auch sagen: Angst reicht nicht, um Angst zu überwinden. Angst kann zu Panikreaktionen führen, zu einer Vollbremsung auf Glatteis.

Er selber hatte keine. Nicht nur dass er mutige Thesen wagte, seine ,Vita activa’ (um einen Titel seiner Ehefrau Hannah Ahrend zu zitieren) führte ihn zu einem ‚Besuch im Hades’ (‚Auschwitz und Breslau 1966. Nach „Holocaust“ 1979’) – in anderen Worten: Er sah sich den Schrecken aus der Nähe an. Er gehörte nicht zu denen, die weggucken und die Augen schließen, wenn es gruselig wird.

In seiner Fabel ‚Der Blick vom Turm’ beschreibt er eine Frau, die hinunterschauend einen Unfall beobachtet, bei dem ihr Kind zu Tode kommt. Sie weigert sich nun, vom Turm herabzusteigen; denn unten wäre sie „verzweifelt“. Doch was „phantomhaft“ bleibt, ängstigt umso mehr und vergrößert das Unglück. So fragt sich der Leser: Sollte sie nicht auch den „Mut zur Angst“ haben? Und die Angst überwinden, indem sie sich das aus der Nähe ansieht?

Angst ist nicht das Ziel. So ist das Motto nicht gemeint. Was aber kommt nach der Angst?

Hintergründe und Verhältnisse

In letzter Zeit sind wir zweimal dem Wort „Panik“ über den Weg gelaufen in Zusammenhängen, die so unterschiedlich sind, dass man dafür gar nicht ein und denselben Begriff verwenden möchte. Da diskutierten wir eben noch über die ‚Panikmacher’ – so der Titel des Buches von Patrick Bahners, der im Interview noch deutlicher wird, und einzelnen Journalisten vorwirft, sie würden „Panik verbreiten“, durch die Art wie sie den Islam beschreiben.

Er traut ihnen viel zu. Das können sie gar nicht – auch nicht, wenn sie wollten. Was er damit zum Ausdruck bringt, ist lediglich die Überbewertung des eigenen Gewerbes; es ist der Wunsch, ein Buch – er selber hat gerade auch eins geschrieben – könnte so wirkungsmächtig sein, dass es Panik auslösen kann. Aber kann es das?

Ich musste gleich an eine Szene aus dem Film ‚Eine total verrückte Reise in einem Flugzeug’ denken: Es gibt Turbulenzen, die Fluggäste werden unruhig. Da leuchtet ein Hinweis auf über den Sitzen, an diesen kleinen Leuchten, auf denen angezeigt wird, dass man sich anschnallen soll, da heißt es: „Don’t panic!“ Sofort beruhigen sich die Passagiere. Dann ändert sich das Schild plötzlich, nun steht da: „Okay, panic!“ Sofort reißen die Fluggäste die Augen auf, fuchteln mit den Armen, springen von den Sitzen auf.

Dann bebt die Erde in Japan – und es wird deutlich, wie lächerlich unsere Sorgen von gestern waren. Wie unverhältnismäßig. In Japan gibt es womöglich Grund zu Panik, und wir wundern uns, dass sie nicht ausbricht. Bei uns bricht sie aus. Es wird über eine „unverantwortliche Informationspolitik der Japaner“ geschimpft, die ihre armes Volk in Unwissenheit hält und ins Messer laufen lässt, und das in einem beschuldigungswütigem Ton. Da hat doch tatsächlich die japanische Atom-Mafia ein Schild aufleuchten lassen – „Don’t panic“ -, und die etwas zurückgebliebenen Japaner, die noch nicht unser Gefahrenbewusstsein, unsere Sicherheitsstandards und vor allem nicht unsere Selbstgerechtigkeit, Katastrophenverliebtheit und Siehste-Mentalität haben, werden dem Profitstreben geopfert und merken es nicht einmal und zeigen auch keinerlei Anzeichen, sofort umzudenken. So wie wir.

Wie sieht denn unsere Informationspolitik aus? Der ‚Spiegel’ nennt Fukushima einen „Super-Gau“. Aber: Ein Gau ist die Abkürzung für „größter anzunehmender Unfall“ – das kann man nicht steigern. Da müssten sowohl Sprachgefühl, das man beim ‚Spiegel’ eigentlich vermutet, sowie intellektuelle Redlichkeit rebellieren. Wenn Alice Schwarzer bei der Berichterstattung über den Kachelmann-Prozess von einem „Super-Gau“ schreibt – gut, das ist ihr Stil. Die ist so. Es geht aber anders. Es gibt eine Skala, die Vorfälle bei Reaktoren einordnet (Tschernobyl war 7) – warum verschweigt uns der ‚Spiegel’ diese Einordnung, die man ersatzweise aus der internationalen Presse erfährt, und übernimmt stattdessen – ohne es als Zitat zu kennzeichnen – die Wertung von Alice Schwarzer? Schon an dieser Stelle ist das keine Information, sondern Kreischen.

Es ist versuchte Panikmache. Denn ganz so einfach ist es auch nicht. Mit Übertreibungen allein kann man noch keine Panik machen. Weder der ‚Spiegel’ noch die „Panikmacher“ aus dem Buch von Patrick Bahners sitzen an einem Schalter, auf den sie drücken könnten, um „Okay panic!“ aufleuchten zu lassen. Panik entsteht erst, wenn das Kreischen einen Resonanzraum hat.

Den hat es in Deutschland. Hier hallt es besonders laut, weil bei uns der Zweite Weltkrieg erst mit der Wiedervereinigung wirklich zu Ende ging, und damit auch der Kalte Krieg, der bis zum Mauerfall eine Spur der Verwüstung in unserem Denken und Fühlen hinterlassen hat. In der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses wurden wir genötigt, uns ein atomares Inferno auf deutschem Boden vorzustellen. Das geisterte fortan durch die Nachrichten und durch die Träume. In Japan waren die Bomben gefallen, die den Krieg beendet hatten. Bei uns stand es noch bevor. Von manchen wurde ein schlimmstmögliches Ende Deutschlands sogar klammheimlich ersehnt. Als Strafe. Mit der Schuld, die mit Auschwitz auf uns lastete, hatten wir es auch nicht besser verdient. Auch wer diese Endzeitstimmung nicht teilte, wurde infiziert. Auch wer die Friedensbewegung nur aus dem Fernsehen kannte, konnte sich dem Nachbeben im Gemüt nicht entziehen. Die Sirenen heulten. Doch so ist das bei Sirenen: Die Angst lässt nicht nach, wenn die Entwarnung kommt. Kam eigentlich eine? Wie auch immer: Wir warteten schon auf den nächsten Sirenenton.

Niemand konnte garantieren, dass es nicht zu einer Katastrophe kommt. Deshalb machten die Politiker, die eine Stationierung damals nicht verhindern konnten, so eine schlechte Figur. Man konnte nur resignieren und sie entschuldigen: Na ja, sie können halt nicht anders, es sind sowieso nur Hampelmänner. Ich kann mich noch erinnern, dass Peter Handke damals von „unverantwortlicher Panikmache“ auf Seiten der Friedensbewegung sprach, und ich dachte: Oh, oh, hier irrt der Dichter aber gewaltig. Wahrscheinlich will er mal wieder auf sich aufmerksam machen.

Es war etwa 1985, an der Mauer war NO FUTURE gesprayt, da stritt ich mich mit Uli Becker darüber, woran die Welt zugrunde gehen würde. Und zwar bald. Ich war für die atomare Katastrophe, er war für Aids. Niemand konnte uns eine Garantie geben, dass das Unheil nicht eintreten würde.

In der Berichterstattung über Gorleben, die uns vorführte, dass es „hipp ist, Aktivistin zu sein“ und zu „schottern“, räumte der ‚Spiegel’ Charlotte Roche großzügig Raum ein: Ein Bekannter von ihr war in die Nähe von einem Castor geraten, krank geworden und gestorben.

Soviel Raum wünsche ich mir für die Diskussion über die Problematik, einen Zusammenhang von atomarer Strahlung und Erkrankungen zu beweisen. Das wird umso schwieriger, je mehr wir uns von der direkten Strahlung nach einem Unfall entfernen und über Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und erhöhte Risiken reden müssen. Das Krebsrisiko ist ja nicht gleich Null, solange ich nicht mit atomarer Strahlung in Berührung komme. Und die ist auch nicht der einzige – und womöglich nicht mal der entscheidende – Faktor. Es wäre ein anspruchsvoller Artikel. Aber warum nicht? Ich will es wissen von einem Magazin, in dem Intellektuelle und Wissenschaftler veröffentlichen. Und nicht Kinder, die ihre Angst vor Gespenstern schon für den Beweis für die Existenz von Gespenstern halten.

Es wird eine Umkehrung der Verhältnisse zugelassen. Weil es nicht möglich ist, den Zusammenhang zu beweisen, lassen wir uns von der Autorin der ‚Feuchtgebiete’ sagen: Solange mir keiner beweisen kann, dass so ein Zusammenhang nicht besteht (und diesen Negativbeweis kann grundsätzlich keiner erbringen), solange habe ich das Wort. Solange habe ich Recht. Das ist unverantwortliche Panikmache.

Angst ist Trumpf. Wir Deutsche haben nicht etwa einen Migrationshintergrund, sondern einen Atomangsthintergrund. Das erklärt auch unsere Sonderstellung in der Welt. Hier wiederum muss man die Berichterstattung im ‚Spiegel’ loben, hier macht er es richtig: Er zeichnet eine Karte von all den Ländern, die Atomenergie nutzen und auch weiterhin nutzen wollen. Damit setzt er unsere Position ins Verhältnis.

Davon hätte ich gerne mehr. Ich hätte zum Beispiel gerne gewusst, ob unsere Nachbarn auch unsere Auffassung teilen, dass die Frage der Endlagerung „nicht gelöst“ ist. Es wäre auch interessant zu wissen, wie unsere Nachbarn unsere Energiepolitik als „vorbildlich“ sehen sollen, wenn wir in die Situation geraten, von ihnen Strom zu importieren? Wie sollen sie uns das denn nachmachen? Es könnte auch noch mehr Verhältnismäßigkeiten in der Berichterstattung geben: In welchem Verhältnis steht die Strahlenbelastung von Hiroshima, Nagasaki, Mururoa, Harrisburg und Tschernobyl zu den tatsächlichen und den möglichen in Fukushima? Wie stark ist die Strahlung, die wir für medizinische Zwecke einsetzen? Wie stark die im Hochgebirge? Ein seriöser Journalismus sollte nicht nur angsterfüllt in die Zukunft blicken, sondern auch nüchtern zurückschauen – und Verhältnisse und Hintergründe zeigen. Das ist möglich. Wie war das damals mit der Kernschmelze in Harrisburg? Mit der Strahlenbelastung? Wie ist die Bilanz von Tschernobyl nach 25 Jahren? Von den Atomversuchen nach 50 Jahren? Von Hiroshima und Nagasaki nach 65 Jahren? Wie sieht es aus mit den Erbschäden und Missbildungen bei Kindern? Inzwischen könnten wir es doch wissen.

Dann hätten wir klare Verhältnisse.

 

Mut zur Angst

Aber zur richtigen

‚Mut zur Angst’ – so lautet eine berühmte Formel von Günther Anders.

Die Gefahr der Vernichtung unserer Zukunft durch Atomwaffen ist so groß, dass wir es uns nicht leisten können, uns die vorzustellen. Deshalb tun wir es gar nicht erst. Die Gefahr ist übergroß. Die Impulse, die eine Angst bei uns auslösen und uns dazu bringen könnte, angemessen zu reagieren, sind nicht etwa „unterschwellig“, also zu klein, um wahrgenommen zu werden, sondern „überschwellig“, also zu groß.

So wird uns Zeitgenossen (er nennt es „Internationale der Generationen“) und uns „Raumgenossen“ (dazu werden wir durch die Universalität der Bedrohung) der Mut zur Angst so schwer macht. Er spricht von „Apokalypse-Blindheit“, von „Verbiederung“ (sein Gegenentwurf zum Begriff „Entfremdung“), von falschen Begriffen wie „Atomwaffe“ (er erklärt, warum man das nicht mehr als „Waffe“ bezeichnen kann) und führt uns zu ontologischen Fragen und dem Problem, dass wir uns das Nichts nicht vorstellen können.

Ich hatte schon nach Fukushima etwas über seine Texte geschrieben, die für meine „Weltanschauung“ so eine bedeutende Rolle gespielt haben, noch eh ich ahnen konnte, dass das ‚Günther Anders Lesebuch’ – fast zwanzig Jahre nach seinem Tod – noch mal aufgelegt werden würde und inzwischen unter dem Titel ‚Die Zerstörung unserer Zukunft’ neu erschienen ist.

Günther Anders stand unter dem Eindruck von totalitären Systemen, er hatte noch die alten Propaganda- und Manipulationstechniken kennengelernt, war aber besonders interessiert an den neuen, den „lügenhaften Formen der heutigen Lügen“. So hat er zum Beispiel darüber spekuliert, wie die Erfindung des Farbfernsehens einen späten Wahlsieg von Richard Nixon ermöglicht und welche Bedeutung Spielautomaten für die Seele (er spricht tatsächlich von „Seele“) der Menschen hat.

Er war ein besonderer Menschenversteher. Deswegen hat man ihn richtig gern und bewundert ihn nicht nur. Er war aber auch – das klingt jetzt etwas merkwürdig – ein Maschinenversteher. Er dachte über das „Wesen“ der Bombe nach, forderte eine „Dingpsychologie“ und thematisierte die „Phantomisierung“ – bleiben wir doch mit unseren seelischen Konflikten nicht mehr unter uns im Kreise der realen Menschen. Wir befinden uns längst im Kreis von realen Menschen gemischt mit Phantomen, die durch die „Synchronisierung des Bildes mit dem Abgebildeten“ entstehen – er meint Fernsehbilder, die zunehmend unsere Gefühle beeinflussen. So berichtet er von echter Babywäsche, die an die Sender geschickt wurde für fiktive Babys aus Vorabendserien. (Wer zufällig das Buch von Jonathan Schell ‚Das Schicksal der Erde’ kennt oder von Neil Postman ‚Wir amüsieren uns zu Tode’ – da steht drin, was schon bei Günther Anders zu lesen war).

 

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Er stand ebenfalls unter dem Eindruck des heißen und des kalten Krieges. Er sah allein schon in dem Umstand, dass sich Sozialismus und Kapitalismus im Wettbewerb gegenüberstehen, eine Niederlage des Sozialismus. Ich vermute, dass er sich den Zusammenbruch des Sozialismus nicht vorstellen konnte, auch nicht die Abrüstung und die Vernichtung von Atomwaffen („-waffen“ ist eigentlich falsch, s.o.).

Er stand vor allem stark unter dem Eindruck der Atomtest – wobei er schon das Wort „Test“ monierte (seine Sprachbetrachtungen sind eine Freude: Immer wieder „horcht“ er in die „Worte hinein“ und bringt uns dazu, sie in neuem Licht zu sehen. Also: Es ist nämlich kein „Test“, sondern ein „Ernstfall“). Er war von der Unausweichlichkeit eines atomaren Schlagabtausches überzeugt. Das wäre dann das „letzte Gefecht“.

Es kam anders.

Hiroshima war ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Als ich selber in Hiroshima war, war ich dankbar, dass ich durch ihn nicht mehr alleine war mit meinen Eindrücken. Und nun? Können uns seine Texte auch Fukushima erklären – den Wendepunkt unserer Energiepolitik? Führt etwa eine direkte Linie von einem dieser japanischen Schreckensnamen zum anderen – ein Shinkansen von Hiroshima nach Fukushima? Zu seinen Lebzeiten hätte man vermutlich die Frage (die man so nachträglich natürlich gar nicht stellen kann) mit Ja beantwortet. Seine Parole ‚Hiroshima ist überall’ wurde zu ‚Gorleben ist überall’ umgewandelt. Es gab auch ‚Seveso ist überall’. Das war ganz in seinem Sinne. Damals hatte die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft noch den Hintergedanken, auch für den „Ernstfall“ nützlich zu sein. Ein Gedanke, der weiterlebt in der Vorstellung, dass ein Atommeiler von Terroristen als Waffe der besonderen Art umfunktioniert werden könnte.

Und wie steht es mit der Angst? Hat sich die verändert seit 1959? Wie liest sich das Motto ‚Mut zur Angst’ heute? Muss heute jemand besonders mutig sein, wenn er seine Angst zum Ausdruck bringen will? Haben wir es nicht vielmehr mit einem Konsens in Sachen Angst zu tun? Einem Gruppenzwang gar? Erfordert es heute nicht viel mehr Mut zu sagen: Ich teile die Angst nicht? Oder: Ich will erstmal die Berechtigung der Angst überprüfen?

Was hat sich inzwischen geändert? Die Grünen brachten uns als zweites, gleichwertiges Thema neben ihrem Anti-AKW-Fundamentalismus den Feminismus, den sie mit Quoten fest verankert haben, so dass in dieser Frage keine kritische Infragestellung mehr möglich ist. Die 70er Jahre kannten sowohl die Parole ‚Atomkraft Nein Danke’ als auch den Spruch ‚Die Zukunft ist weiblich’. So kam es auch. Frauen geben heute den Ton an; sie sind einerseits gleich, andererseits anders. Sie bringen einen anderen Umgangston, soziale Kompetenzen, Empathie und letztlich den Frieden. Das kann man so sehen.

Man kann es auch so sehen, dass Frauen ein Mehr an Angst mit sich gebracht haben. Ihre Gebärfähigkeit macht sie schutzwürdig – und liebenswürdig! -, und das ändert sich nicht plötzlich, wenn die Geburtenrate langsam sinkt. Die Themen der Frauen sind daher: Angst vor Männern (alle Männer sind Gewalttäter), Angst vor Technik (Technik zerstört die Natur, die Natur ist weiblich und gut), Angst vor Veränderungen (am besten wird in der Verfassung festgeschrieben, dass sich nichts mehr ändern darf). Angst ist der gemeinsame Nenner. Und so fordern sie: Sicherheiten, Sicherheiten, Sicherheiten; Schutz, Schutz, Schutz. Ihr Zentralorgan ist die Sensationspresse, die Ängste stets neu befeuert. Und ihre Politik fördert einen grundfalschen Umgang mit der Angst, wie er sich etwa an den Frauenparkplätzen zeigt, die Angst-Aufladestationen sind, und der Frau am Steuer das signalisieren, was die Klamauk-Gruppe ‚Erste Allgemeine Verunsicherung’ so zusammengefasst hat: „Das Böse ist immer und überall“.

Frauen sind nicht gleich. Manche sind so ängstlich, dass man ihnen tatsächlich empfehlen sollte, nur in Begleitung in die Öffentlichkeit zu gehen. Es gibt für solche Fälle aufblasbare Beifahrer-Puppen, die mögliche Angreifer abschrecken. Anderen Frauen ist das alles nicht nur schnuppe – sie finden inzwischen das Theater um Frauenparkplätze und Schutzräume für Frauen nur noch peinlich. Doch da nun das Private politisch geworden ist, ist eine Norm entstanden. Ein Angst-Standard. Der wird weder den tatsächlichen Gefühlen der Frauen noch der tatsächlichen Bedrohung gerecht. Doch so wird eine diffuse Angst zementiert.

Schon Jean Paul stelle fest, dass Frauen generell ängstlicher sind. Er empfahl deshalb, dass sie sich nicht zu lange mit der Kindererziehung befassen sollten. Solange die Kleinen klein sind – klar. Je größer sie werden, umso weniger tut ihnen eine Erziehung zur Angst gut. Zumal es eine Angst ist, die sich so auswirkt, dass sie die Frauen „selbstiger“ macht – damit meinte er: selbstbezogen. Es gibt also verschiedene Ängste. Und die können in verschiedene Richtungen wirken.

Effi Briest hat auch Angst. Es ist womöglich ihre stärkste Empfindung. Sie hat Ängste – um nur einige zu nennen – vor ihrem Mann, den sie noch nicht kennt; vor der „weißen Frau“, die bei Nacht aus dem Bilderrahmen steigt und vor einem Chinesen, auch wenn der schon im Grab liegt. Sie hat allerdings auch eine gute Art, mit ihrer Angst umzugehen, selbst wenn das schreckliche Stichwort „Chinese“ fällt: „Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe …“ – Ja, sie fragt! Sie will es wissen – „ … Solange ich es nicht weiß, bin ich, trotz aller guten Vorsätze, doch immer ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.“

„Bravo!“, sagt daraufhin ihr Mann, und „Bravo!“ möchte man ihr noch nachträglich zurufen. Das war mutig, Effi. So sollte auch der „Mut zur Angst“ sein.

Günther Anders hat sich den Schrecken stets im Detail angesehen: Er reiste nach Hiroshima – später auch nach Auschwitz. Er wollte wissen, wie es da aussieht, auch wenn ihm klar war, dass die Anschauung nicht ausreicht, da half ihm dann seine „Gelegenheitsphilosophie“ weiter, mit der er mehr verstehen konnte, als man vor und hinter den Kulissen sieht. In der Fabel ‚Der Blick vom Turm’ erzählt er von einer Frau, die vom Turm herabblickend beobachtet, wie ihr Kind von einem Auto überfahren wird. Es ist nur ein Spielzeugauto. Solange sie oben auf dem Turm bleibt. Sie will nicht herabsteigen; denn „unten wäre sie verzweifelt“. Sie bringt den Mut nicht auf.

Wie steht es nun mit unserer Angst zum Stichwort „Fukushima“? Versetzt uns die Erwähnung des Namens auch einen Stich? Und wollen wir es wissen? Das Wirkliche? Fragen wir? Wollen wir wissen, wie groß der Schaden ist, vor dem wir uns fürchten müssen? Oder ziehen wir es vor, uns mit Phantasien zu quälen?

Als ich noch mal in dem Buch geblättert habe, habe ich versucht mich zu erinnern: Gab es da nicht etwas über den richtigen Umgang mit der Angst, wenn man soweit gekommen ist und den Mut aufgebracht hat, sie zuzulassen? Ja. Wenn wir unserer Angst „erweitern“ sollen, dann nicht etwa die Art von Angst, die uns „selbstiger“ macht, die dazu führt, dass wir darin baden und eine Selbstgerechtigkeit entfalten, die uns dazu verleitet, uns nicht nur für Gutmenschen, sondern sogar für Bessermenschen zu halten. „Freilich muß diese, unsere Angst eine von ganz besonderer Art sein …“, schreibt er, „ … eine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns zustoßen könnte.“