Freunde von mir machen sich schon Sorgen um mich, weil sie den Eindruck haben, dass ich geradezu süchtig bin nach Videos mit Jordan Peterson. Eine Gleichgesinnte ( „Ähnlichgesinnte“ wäre besser, dieses umfassende Streben nach Gleichheit in allen Bereichen wird mir immer suspekter … also, anders gesagt: eine Freundin, die ebenfalls mit Hingabe Jordan-Peterson-Videos verfolgt) hat vorgeschlagen, dass wir beide eine kleine „Jordan-Peterson-Anonymus“-Gruppe bilden sollten. Ein Scherz. Anonym sollte es natürlich nicht sein. Inzwischen gibt es sogar solche Gruppen. Sie nennen sich Jordan-Peterson-meetups.
Ich bin kein Fan. Aus dem Alter bin ich raus. Doch Jordan Peterson ist für mich die größte Entdeckung seit … seit … seit … ja, seit wann eigentlich? Jedenfalls möchte ich hier eine kleine Einführung geben, natürlich nur roughly speaking.
Der neue Sokrates
Also … Wer ist denn nun dieser Jordan Peterson? Er ist der „Neue Sokrates“, der „Held der freien Rede“ – „the hero of free speech“ –, er ist die „Neue Vaterfigur auf youtube“. Im Ernst. Das sind nicht meine Worte. Ich zitiere nur. Ich wiederum finde: Er ist eine rhetorische Sportskanone mit Wanderprediger-Qualitäten. Ich fange mal ganz von vorne an. Für mich war es 2017, als ich meine ersten Vorträge gehalten und die ersten Texte über Peterson geschrieben habe.
2017 habe ich geschrieben: Prof. Dr. Jordan B. Peterson – Mitte fünfzig – ist klinischer Psychologe an der Universität Toronto. Schon seit Jahren stellt er seine Vorträge zum Thema Persönlichkeit ins Netz und hat damit so viele angesprochen – so viele hätte er niemals durch direkten Kontakt mit Studenten und Patienten erreicht. Er hat sich regelrecht zu einer Art Ein-Mann-Fern-Uni entwickelt.
Doch das sind nur die Beiträge von ihm selber. Die sehen auch entsprechend aus: wie selbstgemachte Videos eben. Obendrein gibt es Blogger und Online-Publisher, anonyme und nicht anonyme Fans, die aus seinen Vorträgen, Talkshow-Auftritten und diversen Interviews Szenen ausschneiden, neu mischen, womöglich mit Musik unterlegen, kunstvoll bebildern und kommentieren. Inzwischen gibt so unübersichtlich viel von Jordan Peterson im Netz, dass ich Schwierigkeiten habe, Leuten, denen ich davon vorgeschwärmt habe, einen geeigneten Einstieg zu empfehlen. Wo soll man anfangen?
Moment. Gleich geht es los!
Es ist für alle was da. Für alle, die sich die Sinnfragen des Lebens stellen und sich für Christentum, Buddhismus, Atheismus oder Islam interessieren. Auch für ein akademisches Publikum, das an Nietzsche und Kierkegaard erinnert oder die Widersprüche im Poststrukturalismus bei Derrida erklärt haben will, ist was geboten. Jordan Peterson ist ein Experte für totalitäre Systeme, die auf Lügen gebaut sind, und kann ergreifende Geschichten aus Auschwitz oder von den Lagern in Russland erzählen. Aus der Kenntnis der Funktionsweisen solcher Systeme und der Bedeutung, die der Sprache dabei zukommt, ist sein Postulat entstanden: Speak the truth.
Es ist zugleich ein Bekenntnis zum „Logos“ als ordnendem Wort im Chaos – und weiterhin zum Dialog, worin „Logos“ enthalten ist.
Du musst dein Leben ändern
Jordan Peterson ist zugleich eine Art Online-Therapeut mit einer erstaunlichen Anhängerschaft, die von ihm wissen will, wie man denn nun ein bedeutungsvolles Leben führen kann. Sie befolgen seine Tipps, versuchen ihr Leben auf die Reihe zu bringen und dokumentieren ihre Fortschritte in eigenen Video-Kanälen. Was tun sie?
Sie ändern ihre täglichen Gewohnheiten; sie machen Pläne, wie sie ihre großen Ziele in kleinen Schritten erreichen können; sie versuchen, nicht mehr zu lügen. Sie gehen zum Beispiel jeden Morgen eine Runde um den Häuserblock, räumen ihr Zimmer auf, lesen endlich die Bücher von Dostojewski, die Jordan Peterson ihnen empfohlen hat, und nehmen an seinem self-authorizing-Programm teil.
Was ist das nun wieder? Es ist ein Programm, das sich schon tausendfach bewährt hat und versucht, den einzelnen zum Autor seiner eigenen Lebensgeschichte zu machen auf der Grundlage der Auffassung, dass Schreiben und freies Sprechen die geeigneten Werkzeuge sind, um zu einem Selbstbewusstsein zu kommen, das nicht länger einer Täuschung unterliegt, das vielmehr den Weg zur Wahrheit ermöglicht, was wiederum das Gegenmittel gegen das unvermeidliche Leiden an der Existenz ist.
Bei Rilke heißt es: „Du musst dein Leben ändern“. Jordan Peterson versucht zu zeigen, wie es gehen könnte. Die Wahrheit zu sagen – speak the truth – ist allerdings hoch gegriffen, das ist zu anspruchsvoll für den Anfang. Wir sollten kleine Schritte tun und erst einmal aufhören zu lügen. Das heißt auch, wir sollen nicht alles mitmachen und so tun, als wären wir einverstanden.
Ein Geschichten-Versteher
In meinen eigenen Worten klingt das womöglich nicht so toll, es ist auch längst nicht so simpel, so handlich und gebrauchsfertig, wie es erscheinen mag. Man muss berücksichtigen, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist. Es ist keineswegs so, dass wir sie schon hätten, wir suchen sie. Es geht auch bei dem Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nur darum, die Herrschenden kritisieren zu können, vielmehr geht es um einen Mechanismus, der erhalten bleiben muss, damit sich Gesellschaft entwickeln kann.
Jordan Peterson ist ein faszinierender … nein, nicht etwa Geschichten-Erzähler, sondern Geschichten-Versteher – nicht nur ein Frauen-Versteher. Ausnahmsweise möchte ich hier das ansonsten von mir nicht so geschätzte Wort „Narrativ“ verwenden. Er sieht auch unsere Leben als eine Art Erzählung und aus den überlieferten Meta-Erzählungen, aus den alten Mythen und Archetypen filtert er die Hinweise heraus, die uns zeigen können, wie wir leben sollen.
Dazu werden neue Lichter auf die Geschichten aus der Bibel geworfen, auf das Leben Buddhas und überraschenderweise auch auf Szenen aus ‚Harry Potter’, aus ‚Pinocchio’ oder aus ‚König der Löwen’. Das sind die Erzählungen, die in uns schlummern. Hier werden die großen Fragen aufgeworfen:
Was will eigentlich ein Drache mit einer Jungfrau? Wozu braucht ein Frosch Gold? Warum suchen die Ritter der Tafelrunde ausgerechnet die dunkelste Stelle des Waldes auf? Warum versteckt sich der nackte Adam vor Gott hinter einem Busch, als wüsste er nicht, dass Gott durch Büsche gucken kann? Immer wieder werden wir aufgefordert, unseren toten Vater vom Grunde des Meeres zu retten – alles klar?
Willkommen im Jordan Peterson Kino
Wenn Sie mal einen Blick riskieren wollen. Ich habe absichtlich kurze Videos ausgesucht. Ich weiß, wie ungeduldig die Nutzer des Netzes sind. Ich bin auch so. Zum Einstieg ein superkurzes Video von Pordan B. Jeterson – von einem Fan – über ihn als Redner der besonderen Art. Ein Scherz, allerdings einer mit Nachwirkungen. Man muss immer wieder, wenn man später andere Videos von ihm sieht, daran zurückdenken.
Ja, er spricht apodiktisch. Nicht immer. Manchmal fällt er sich auch selbst in die Worte und in die Gedanken, fängt noch mal neu an, entschuldigt sich oder denkt leise vor sich hin. Wenn man ihm beim Sprechdenken zuschaut, hat man oft das Gefühl, Uraufführungen beizuwohnen.
Im folgenden 8-Minuten-Video vom Blog ‚Bite-size-philosophy’, wo seine Vorträge in Häppchen aufgeteilt werden, heißt es: Leben ist Leiden. Wie gehen wir damit um? Das muss der einzelne entscheiden. Hier kommt der Hinweis auf Kierkegaard. Es folgen Ausführungen über die Ehe als Spiel, dessen Regeln man befolgen soll. Man ist bei diesem Spiel „all in“. Wie auch im richtigen Leben. Wieder die Frage: Wie kann man bedeutungsvoll leben? Die Integrität des Einzelnen ist die Antwort. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft.
Das ist ganz großes Kino (8 Minuten) mit einem gewissen Kitsch-Faktor. Hier wird heftig auf die Tube gedrückt: Peterson goes to Hollywood, möchte man sagen, wenn man sich diese Aufmachung anschaut:
Das reicht für heute. Nein. Halt. Eins noch. Was Frauen wollen. Das interessiert uns sicher. Zumindest knappe 5 Minuten lang. Zunächst geht es um „cultural appropriation“, also um die so genannte kulturelle Aneignung, die neuerdings an den Universitäten als Ausbeutung gesehen wird – wenn beispielsweise jemand bei einer Party mit großen Mexikohüten rumläuft und sich damit fremdes Kulturgut überstülpt. So sieht es heute aus, auch Yoga ist betroffen. Es geht weiterhin um Aggression und Hip Hop und über Frauen, die harmlose Männer hassen – aber was lieben Frauen? Was wollen sie? Das zeigt eine Auswertung ihres Umgangs mit dem Internet, wenn sie da ihre heimlichen Fantasien spazieren führen.