Attest für Literaten. Sie müssen nicht gendern

Haben Sie schon von einer „öffentlichen Schreibweise“ gehört? Nein, noch nicht? Dann hören Sie mal. Ich meine natürlich: dann lesen Sie bitte weiter.

 

Ihre Meinung ist uns wichtig

 

„Ihre Meinung ist uns wichtig“ – wenn mir jemand so kommt, bin ich sofort misstrauisch und vermute ein vorgetäuschtes Interesse. Wir kennen das. Wir werden gefragt, haben aber nichts zu sagen. Es wird lediglich so getan, als gäbe es einen Hauch von Mitbestimmung, wir werden nur irgendwie mit einbezogen, selbst wenn wir leise murren, wir werden abgeholt und mitgenommen auf eine Reise, bei der das Ziel längst feststeht. Nun ist es passiert. Ich wurde gefragt.

 

Und? Wie ist meine Meinung zur „öffentliche Schreibweise“? Schwer zu sagen. Ich höre den seltsamen Begriff zum ersten Mal und weiß nicht so recht, was damit gemeint ist. Ich habe allerdings meine Vermutungen. Mit dem verführerischen Charme der Undeutlichkeit soll hier eine Veränderung eingeführt werden, die viel weitreichender ist, als die scheinheilige Befragung erahnen lässt. Ich halte das Zauberwort von der „öffentlichen Schreibweise“ für eine Mogelpackung. Für einen raffinierten Taschenspielertrick. Wie komme ich dazu? Sehen wir uns die beiden Komponenten näher an. Undeutlich ist sowohl das „öffentlich“ als auch die „Schreibweise“. Beide Komponenten setzen eine Spaltung voraus. Schauen wir mal:

 

Wie hätten Sie denn gerne eine öffentliche Schreibweise?

 

Der P.E.N. befragt zu dem Thema die „Kolleginnen und Kollegen“. Einer von ihnen, Prof. Dr. Lutz Götze, ist zugleich Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, und dieser Rat will nun rechtzeitig zu seiner nächsten Sitzung am 26. März ein Papier der Arbeitsgemeinschaft Geschlechtergerechte Schreibung (der Herr Götze ebenfalls angehört) verabschieden, das eine „Empfehlung“ für den oben erwähnten „öffentlichen Schreibgebrauch“ abgeben will. Zur Diskussion stehen dabei folgende Möglichkeiten:

 

„-Doppelnennung: vollständige Paarform: (Schülerinnen und Schüler, jede und jeder)

Verkürzungen: Schrägstrichvarianten: (Lehrer/in, Lehrer/-in)

Binnen-I: LehrerIn, MitarbeiterInnenbüro)

Doppelpunkt: (Forscher:in)

Klammer: Lehrer(in)

Ersatzformen: geschlechtsneutrale übergreifende Formulierungen/Abstrakta: weder Frauen noch Männer sind sprachlich sichtbar (Studierende, Lehrkräfte, Gäste, Direktion)

Varianten geschlechtergerechter Markierung für mehr als zwei Geschlechter sind:

-*Asterisk( Sternchen): (Lehrer*innen, Ärzt*innen). Hier ergibt sich ein Fehler beim Stammmorphem(der *Ärzt)

Gender-Gap-Varianten: Aufhebung binärer Personenvorstellungen. Männliche und weibliche Personen sowie inter* und trans* sind gemeint:

Statischer Unterstrich (jede_r Lehrer_in, Bürger_innen)

    Dynamischer Unterstrich (We_lche Mita_rbeiterin)

-x-Form, Plural=xs : ( Dix Studierx; Dixs Studierxs)

Kurzwörter ( Azubi, Hiwi, OB)“

 

Was hat Literatur mit Öffentlichkeit zu tun?

 

Nun dürfen wir gespannt sein, welche dieser Empfehlungen das Rennen machen. Sie sollen speziell für den „öffentlichen Schreibgebrauch“ gelten – für den öffentlichen wohlgemerkt, also nicht für den literarischen. Denn „literarisches Schreiben und persönliche schriftliche Äußerungen (Brief, Karte, e-mail)“ sollen, wie es lakonisch heißt, „nicht betroffen“ sein.

 

Da fragt man sich: Warum werden dann ausgerechnet die Mitglieder des P.E.N. dazu befragt? P.E.N. ist die Abkürzung für Poets, Essayists und Novellists. Die sind nicht betroffen. Denn den vielen Romanciers, Essayisten und Poeten, die im P.E.N. organisiert sind, geht es um literarisches Schreiben. Sollen sie trotzdem den neuen Empfehlungen für den „öffentlichen Schreibgebrauch“ folgen? Etwa dann, wenn sie nicht literarisch (und nicht persönlich) schreiben, wenn sie beispielsweise Stellungnahmen abgeben oder Solidaritätsadressen verfassen?

 

Sollen also die Mitglieder im P.E.N. zukünftig einen doppelten Schreibgebrauch pflegen, so dass sie in ihren Novellen weiterhin von inhaftierten „Journalisten“ schreiben, bei ihrem „öffentlichen Schreibgebrauch“ jedoch von „Journalistinnen und Journalisten“, von „Journalist*innen“, von „Journalist­_innen“, „Journalist:innen“ oder „JournalistInnen“?

 

Kann man Öffentlichkeit teilen?

 

Es heißt: „öffentlicher Schreibgebrauch“. Wenn es um Öffentlichkeit geht, dann sind Schriftsteller natürlich betroffen. Sie wollen ihre Werke schließlich veröffentlichen. Alle „bücherschreibenden Personen“, wie aktuell „Autoren“ definiert werden, drängen an die Öffentlichkeit, sie wollen keinesfalls davon ausgeschlossen werden. Neuerdings scheint es jedoch zwei Öffentlichkeiten zu geben, in denen jeweils verschiedene Schreibgebräuche gelten.

 

Moment … Das geht nicht. „Öffentlichkeiten“ gibt es nicht im Plural. Das hat das Rechtschreibprogramm von meinem Computer sofort erkannt und entsprechend angemahnt. Öffentlichkeit ist ein Singularetantum. Das sehe ich auch so. „Öffentlichkeiten“ kommt mir falsch vor. Es gibt nur eine Öffentlichkeit.

 

Also gut – dann haben wir eben nur eine einzige Öffentlichkeit, in der allerdings zwei verschiedene Standards für den Schreibgebrauch gelten. Das erscheint mir genauso falsch.

 

Bösewichter, Bleichgesichter, Heuchler, Duckmäuser und Denunzianten

 

Wir kennen das vom Sprechen. Da kann es zu üblen Szenen kommen. Ich erinnere mich, in meiner Jugend von fiesen Bleichgesichtern gelesen zu habe, die sehr zum Missfallen von Winnetou mit „gespaltener Zunge“ gesprochen haben. Das waren die Bösen. So sollte man nicht sprechen. Wir kennen es auch vom Predigen. Erinnert sei an die üblichen Verdächtigen, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken. Das ist verlogen und betrügerisch, das sollte man lieber nicht tun. Pfui! Und wir kennen es vom Flüstern der Duckmäuser, vom Sprechen hinter vorgehaltener Hand; wenn wir – wie wir es heute tun – im privaten Kreis anders reden als in Zusammenhängen, bei denen wir fürchten müssen, dass ein missgünstiger Lauscher mithört, etwas in den falschen Hals kriegt und versucht, uns zu schaden. Das ist schlimm. Das sind Zustände wie in einer Diktatur, in der die Freiheit verloren gegangen ist. Pssst!

 

Das gab es bisher beim gesprochenen Wort. Dass nun auch beim geschriebenen Wort – also beim Schreiben – eine Spaltung eingeführt werden soll, ist neu, und das ist gar nicht gut. Dann haben wir genau die beklagenswerten Zustände, wie wir sie beim Sprechen im Kontext von Verbrechen, Heuchelei, Unterdrückung und Denunziation haben, auch beim Schreiben. Dann haben wir es schriftlich. Deshalb war auch stets vom „Schreibgebrauch“ die Rede.

 

Wie passt das zusammen?

 

Das kam mir gleich verdächtig vor. Vielleicht haben Sie „Schreibgebrauch“ gelesen und gedacht, dass damit „Sprachgebrauch“ gemeint ist. Das passiert leicht. Mit einem alleinstehenden Schreibgebrauch fremdeln wir noch. Wir kennen natürlich die Zweierpackung: „Sprach- und Schreibgebrauch“. Die leuchtet sofort ein. Beides gehört zusammen. Es geht darum, wie man spricht und wie man es schreibt. Mir war sofort verdächtig, dass hier der Schreibgebrauch unabhängig vom Sprachgebrauch auf einem Bein hüpfend ins Feld geführt wurde. Kann man denn die beiden Elemente voneinander trennen?

 

Wohl nicht. Andererseits beziehen sich die beiden Teile aus dem Doppelpack nicht so reibungslos auf einander, als hätten wir es mit zwei Bierdeckeln zu tun, die man deckungsgleich übereinanderlegen kann, so sehr wir uns auch eine klare und einfache Zusammengehörigkeit wünschen mögen.

 

Vielleicht erinnern Sie sich noch an die umstrittene Lernmethode „Schreiben nach Gehör“, die vor etwa zwanzig Jahren ausprobiert wurde und uns den „Fata“ und die „Muta“ beschert hatten. Ein Irrweg. Eine Studie im Jahr 2013 stellte fest, dass das Experiment zu einer Verarmung des Wortschatzes und zu deutlich größerer Fehlerhäufigkeit geführt hatte (vorher: 7 Fehler aus 100 Wörter/ nachher: 17 Fehler aus 100 Wörter).

 

Wie predigte einst der Kohlrabi-Apostel?

 

Dem Scheitern ging bereits ein Scheitern aus den zwanziger Jahren voraus, von dem man offenbar nicht gelernt hat. Wer kennt ihn noch? Der als „Kohlrabi-Apostel“ bekannte Carl Gustaf Adolf Nagel, ein leicht bekleideter Naturmensch, Wanderprediger, Barfussläufer und Reformer, der sich gemäß seiner eigenen „ortografi“ schlicht „gustaf nagel“ schrieb, hatte sogar eine eigene Partei, die „Deutsche kristliche Folkspartei“, die bei der Reichstagswahl 1924 ganze 0,01 Prozent der Stimmen erringen konnte. Zu seinen Forderungen gehörte eine grundlegende Rechtschreibreform nach dem Motto: „schreibe wi du sprichst“. Nun ja, das war wohl nix. Was allzu schlicht ist, scheitert.

 

Ich bin übrigens auch ein Opfer der Vorstellung, dass man alles einfach so schreiben kann, wie man es spricht. Wir hatten einen Deutschlehrer, an dem wahrscheinlich ein großer Schauspieler verloren gegangen war. Er hatte eine dermaßen prononcierte Aussprache, dass man bei offenem Fenster vermutlich noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite jeden Konsonanten identifizieren konnte. So hatte ich beim Diktat geschrieben: „Er zock sein Hempt an“. So hatte es der Lehrer gesagt. Mir wurden dafür mehrere Fehler angekreidet, man hat mir diese kleinen Vergehen nicht großzügig als Flüchtigkeitsfehler durchgehen lassen, als Flüchtlingskind hatte ich damals keinen Bonus.

 

Am Anfang war das Wort – das gesprochene Wort

 

So einfach ist es also nicht. Dann eben nicht. Und dennoch gehören Sprechen und Schreiben zusammen wie Pech und Schwefel. Wenn vom Sprachgebrauch die Rede ist, denken wir den Schreibgebrauch automatisch mit. Er ist nachgeordnet. Erst kam das Sprechen, dann das Schreiben. Sprachgebrauch war zuerst da. Den pflegen auch Analphabeten, auch wenn es davon keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Der Schreibgebrauch regelt nachträglich, wie wir aufschreiben und festhalten können, was wir gesprochen haben.

 

Nun haben wir eine neue Situation. Die Reihenfolge ist auf den Kopf gestellt: Der vorgeschlagene neue Schreibgebrauch mit Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt ist nicht aus dem tatsächlichen Sprechen hervorgegangen, sondern aus der Tastatur des Computers aufgestiegen. Die Formel „Schreibgebrauch first, Sprachgebrauch later“ stellt uns vor das Problem, dass wir nicht wissen, wie wir das Geschriebene – das Getippte – aussprechen sollen. Das ist auch nix.

Sprachgebrauch und Schreibgebrauch werden geschieden

 

Das einbeinige Wort-Ungeheuer „Schreibgebrauch“ ist vergleichsweise neu – doch so neu nun wieder auch nicht. Im Jahr 2013 wurde das Projekt Schreibgebrauch gestartet, im Jahr 2016 wurde es beendet. Es wollte ein Instrumentarium entwickeln, um die „tagtägliche Produktion von Schriftdeutsch für orthografische Untersuchungen auszuwerten“, auf dass sie dem Rat für deutsche Rechtschreibung als „Bausteine für die künftige Normierungsarbeit“ dienen können.

 

In anderen Worten: Man hat nachgesehen, wie die Leute heutzutage schreiben. Dabei wurden, wie es ausdrücklich heißt, nicht nur „Zeitungen, Zeitschriften und Bücher von ‚professionellen Schreibern‘, sondern auch Schülertexte und Internetbeiträge etwa in Blogs und in Foren“ ausgewertet. Erstaunlicherweise stehen die „professionellen Schreiber“ in Anführungsstrichen, als wollte man sich von diesen Leuten distanzieren.

 

Genau das hat man auch getan. Denn in der unübersichtlich großen Produktion von Schriftdeutsch in Romanen, Essays und Gedichten – ob von Autoren im P.E.N. oder nicht – wird sich kaum etwas gefunden haben, was dem Rat für Rechtschreibung als Baustein für eine künftige Normierungsarbeit nützlich gewesen sein könnte. Eine Schieflage bei der Gewichtung der Datenlage war da unvermeidlich. Die Literatur von professionellen Schreibern blieb den Germanisten überlassen. Die wiederum haben ihre eigene Terminologie, zu der ein Begriff wie „Schreibgebrauch“ nicht gehört –  jedenfalls gehörte er nicht dazu, als ich das studiert habe.

 

Zwei Spaltungen

Das Projekt Schreibgebrauch wurde besonders bei schriftlichen Äußerungen fündig, in denen die gendergerechte Sprache vorangetrieben wurde, von der es umso mehr gab, je mehr der Journalismus von Frauen dominiert wurde. Je mehr die gendergerechte Sprache durch Gleichstellungsbeauftragte in einer Politik verankert wurde, die grundsätzlich zwischen Frauen und Männern trennt. Die Gendersprache hat sich umso stärker durchgesetzt, je mehr der Nichtgebrauch mit sozialer Ächtung und Nachteilen (beispielsweise an Universitäten) verbunden war. Die Spaltung der Öffentlichkeit, die ich weiter oben beklagt habe, wurde schon an dieser Stelle vorbereitet. Dieses war der erste Streich.

 

Da speziell Internetforen erfasst wurden, hatte es das Projekt Schreibgebrauch mit Texten zu tun, die Sonderzeichen enthielten, die ohne Rücksicht darauf benutzt wurden, ob sich die neuartigen schriftlichen Produktionen überhaupt in gesprochene Sprache umsetzen lassen. Um Sebastian Krämer aus dem Lied „Deutschlehrer“ (auf das ich gleich näher eingehen werde), zu zitieren: Das Internet wurde zum Ort, „wo die Schriftlichkeit ihre triumphale Renaissance bar jeder Orthographie erlebt, ich kozze ab mit zwei Zett …“  Das also war der zweite Streich. So kam es zu einer weiteren Spaltung – zu einer vom gesprochenen zum geschriebenen Wort.

 

Nun haben wir den Salat. Mehr und mehr trennte sich das Sprechen vom Schreiben und die „öffentliche Schreibung“, die mit dem Projekt Schreibgebrauch mit unverdächtigen Absichten aus der Taufe gehoben wurde, bereitete auf lange Sicht die Trennung der Öffentlichkeit in zwei Lager – und damit auch die Spaltung der Gesellschaft.

 

Schlechter Rat muss nicht billig sein

 

Vielleicht hatten sie noch nie von dem Projekt Schreibgebrauch gehört, aber dass es einen Rat für deutsche Rechtschreibung gibt, in dem auch der oben erwähnte Prof. Dr. Götz tätig ist, haben Sie vermutlich undeutlich in Erinnerung und haben sich womöglich schon gewundert, wieder davon zu hören. Womöglich haben Sie sich im Stillen gefragt: Gibt es den etwa immer noch? Was macht der überhaupt?

 

Die umstrittene Rechtschreibreform, die uns der Rat seinerzeit eingebrockt hat, liegt ja nun schon ein Weilchen zurück. Richtig. Die gab es 1996. Vor mehr als zwanzig Jahren also. Damals gab es sehr viel Wirbel um die richtige Schreibweise von Worten (Delfin, Nessessär, Wandalismus). Erinnert sich noch jemand? Wenn ja, dann vermutlich ungern.

 

Sebastian Krämer hat ein dramatisches Lied zu dem Thema geschrieben, aus dem ich schon zitiert habe. Es hatte trotz seiner ungewöhnlichen Form erstaunliche Popularität gewonnen. „Deutschlehrer“, schimpft er, „ihr hättet die neue Rechtschreibung verhindern können …“ Wie wir inzwischen wissen, haben sie es nicht getan. „Schande über euch, Schande, Schande …“ Lange ist es her. Wie lange, sieht man u.a. daran, dass in einem kurzen Schwenk ins Publikum Kurt Beck (wer war das noch?) zu erkennen ist.

 

Der Sprachfrieden hat nicht lange gehalten

 

Im Jahre 2004 wollte der Rat für deutsche Rechtschreibung, wie es hieß, „Sprachfrieden“ herstellen, denn es herrschte bereits ein regelrechter „Rechtsschreibkrieg“; der Duden wurde als „das meistgehasste Buch“ bezeichnet. Zu den Friedensangeboten, die schließlich im Jahr 2017 verkündet wurden, gehörte es, dass bei der „Goldene Hochzeit“ das vorangestellte „Goldene“ weiterhin großgeschrieben werden kann, dass es Yoga heißt und nicht „Joga“, und dass der Grizzlybär auf die Schreibweise „Grislibär“ verzichtet. Es war auch das Ende der Majonäse. Mayonnaise schreibt man nun weiterhin so, wie sie schmeckt. Nun war Frieden. Die Wellen sind geglättet.

 

Die Rechtsschreibreform sieht man heute als Unglück, an das man nicht dauernd erinnert werden möchte. Die Luft ist raus. Günter Grass – damals wohl das prominenteste Mitglied im P.E.N. und einer der schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform – lebt nicht mehr. Wir haben uns zähneknirschend an die Folgen dieser Reform gewöhnt. Das Publikum wünscht sich zwar immer wieder das Lied „Deutschlehrer“ als Zugabe, doch Sebastian Krämer hat keine rechte Lust, dem Publikum den Gefallen zu tun. Auch er hat mit dem Thema abgeschlossen. Die Luft ist raus. Jedenfalls war sie eine Zeit lang raus.

 

Nun ist die Luft wieder drin. Heiße Luft. Wer nach dem historischen Sprachfrieden anno 2017 gedacht hatte, dass wir bei der Rechtsschreibreform noch mal mit einem blauen Auge davongekommen seien und dass es alles noch viel schlimmer hätte kommen können, steht jetzt als blauäugig da: Es kommt noch schlimmer. Der Rat für Rechtschreibung ist wieder da – da, wo er nicht hingehört.

 

Wenn es schlechte Schüler gibt, wie schreibt man das richtig?

 

Die Empfehlungen, um die es nun geht, gehören nämlich nicht in den Zuständigkeitsbereich des Rates Rechtsschreibung, auch wenn immer wieder von „Schreibung“ die Rede ist. Das lässt sich leicht zeigen. Eine Frage der Rechtschreibung wäre es, wenn wir festlegten, dass die Schreibweise „Schühler“ nicht korrekt ist, auch „Schüla“ nicht ­– was an das berüchtigte Methode „Schreiben nach Gehör“ erinnert.

 

Nach dem zur Debatte stehenden Empfehlungen zum gendergerechten Schreibgebrauch sieht es jedoch anders aus: Die „Schüler“ würden dann zu „Schülerinnen und Schüler“, zu „Schüler*innen“, zu „Schüler_innen“, „Schüler:innen“ oder „SchülerInnen“. Oder zu „zur Schule Gehende“, auch wenn sie zu Hause bleiben müssen. Inzwischen sind auch „Vater“ und „Mutter“, die kurzzeitig nach Gehör zu „Fata“ und „Muta“ mutiert waren, durch „Elter 1“ und „Elter 2“ ersetzt worden. Erkennen Sie den Unterschied? Wir haben es hier nicht mit einer neuen Rechtschreibreform zu tun.

 

Es geht keinesfalls um Rechtsschreibung, sondern um inhaltliche Vorentscheidungen zu Geschlechterfragen, die in die „öffentliche Schreibung“ implementiert werden sollen, um weitere Diskussionen zu dem Thema abzuwürgen.

 

Wenn ich das Fleisch nicht essen will, mag ich auch nicht über das Dressing reden

 

Hier zeigt sich, wie tückisch die Betonung auf „Schreibung“ und die Vermeidung des Wortes „Sprache“ war. Damit wurde so getan, als ginge es um eine eher unbedeutende Frage der Rechtschreibung, obwohl es in Wahrheit um die Einführung der gendergerechten Sprache geht, die uns feministische Denkmuster vorschreiben will.

 

Stellen Sie sich vor, Sie wären Vegetarier und würden regelmäßig in ihrem Lieblingslokal zum Mittag essen. Eines Tages sagt der Kellner: „Das Fleisch, das Sie bestellt haben, kommt gleich. Welches Dressing möchten Sie: Knoblauch, Kräuter oder Mayonnaise?“ Dann sagen Sie hoffentlich: „Ich will nicht über das Dressing mitbestimmen dürfen, ich habe das Fleisch nicht bestellt und will es auch nicht essen.“

 

So lautet auch meine Antwort als Mitglied im P.E.N.: Über die Schreibweise von der Mayonnaise lasse ich gerne mit mir reden, da halte ich mich an das, was die Öffentlichkeit am besten versteht, doch ich will die gendergerechte Sprache nicht, die unter der falschen Flagge der „öffentlichen Schreibung“, mit der signalisiert wird, dass es sich lediglich um ein nachgeordnetes Problem der Schreibung handelt, abgesegnet werden soll, so dass man nachher in aller Bequemlichkeit sagen kann: Ja, ja, es gab da schon einige kritische Stimmen, aber eine Befragung der „Kolleginnen und Kollegen“ hat wichtige Bausteine ergeben, die der Rat für Rechtschreibung nun in seine Arbeit einbeziehen kann. Er kann nun Empfehlungen geben, die viel mehr als Empfehlungen sind, sondern Öl im Feuer.

 

Die Spaltung wird vertieft. Die Stimmung wird gereizter

 

Ich fürchte, dass es genauso kommen wird. Herr Götze ist, wie gesagt, Mitglied im Rat für Rechtschreibung, ebenso in der Arbeitsgemeinschaft Geschlechtergerechte Schreibung und außerdem im P.E.N. Er kann alle Türen aufhalten, damit ein Durchzug entsteht und die gendergerechte Sprache kräftig Wind in die Segel kriegt.

 

Dabei kann man jetzt schon erkennen, dass sich die Spaltung dramatisch zuspitzt, dass ein Diskurs immer schwieriger wird. Die Markierungen der „öffentlichen Schreibung“ sind längst zu Erkennungszeichen geworden, um nach dem armseligen Aschenputtel-Prinzip (die Guten ins Töpfchen …) die Gesellschaft zu spalten.

 

Wer die „öffentliche Schreibung“ nicht nutzt, gehört zu denen, auf die man mit dem Finger zeigt. Zu denen, die ausgestoßen werden. Zu denen, die man als zumindest rechtsgerichtet, wenn nicht gar als Gefahr für die Demokratie beschimpfen und wegen Diskriminierung verklagen kann. Eine Sprech- und Schreibweise, die sich frei hält von den Erkennungsmerkmalen der gendergerechten Sprache, gilt als „AfD-Sprech“.

 

Henning Lobin warnt uns: „Die ‚Neue Rechte‘ missbraucht die deutsche Sprache.“ Dabei besteht der Missbrauch hauptsächlich darin, dass die ‚Neue Rechte‘ sich der Gendersprache verschließt. Dahinter stecke, so Lobin, eine politische Agenda. „Die Ablehnung einer Gendersprache“, erklärt er, „stehe für eine traditionelle Vorstellung von Familie und Gesellschaft allgemein“. Das ist schlecht. Jedenfalls in seinen Augen.

 

Ich gehöre zu den Kritikern

 

Ich fürchte, dass es genauso kommen wird, wie ich beschrieben habe, weil Herr Götze mit einer deutlichen Vorentscheidung an die Sache herangegangen ist. Er nutzt demonstrativ die Doppelnennung und schreibt wiederholt „Kolleginnen und Kollegen“, was übrigens nicht alle im P.E.N. tun; manchmal kriegt man auch Schreiben, in denen die Kollegen „Kollegen“ genannt werden.

 

Auch die damalige Präsidentin Doris Ahnen im Rat für Rechtschreibung befand, dass der Rat in seiner Zusammensetzung eine hohe Pluralität aufweisen kann, was sie als „faires Angebot insbesondere an die Kritikerinnen und Kritiker“ bezeichnet hat. Ich verstehe das so, dass Kritik willkommen ist, sofern die Doppelnennung beibehalten wird, an die sich die meisten inzwischen gewöhnt haben (ich nicht).

 

Ich gehöre zu den Kritikern, die sich in einer Gruppe finden, die sich einfach „Kritiker“ nennt und in der es egal ist, welche geschlechtliche Identität jemand hat, der sich zu welchem Thema auch immer äußert.

 

Ich will einen Vorschlag zur Güte machen. Eingangs erwähnte ich, dass es in dem Fragebogen zur „öffentlichen Schreibung“ hieß , dass das literarische Schreiben „nicht betroffen“ ist.

 

Ein Attest für Literaten

 

Hier nun mein Vorschlag: Der P.E.N. stellt für seine Mitglieder ein Attest aus, das auch andere Schriftsteller beantragen können, die sich dem literarischen Schreiben verpflichtet fühlen. Denen wird bescheinigt, dass sie vom gendergerechten Schreibgebrauch befreit sind und in ihrer literarischen Arbeit, in ihren persönlichen sowie in allen sonstigen an die Öffentlichkeit gerichteten Schreiben ein und dieselbe Schreibung benutzen dürfen.

 

Dieses Attest könnte auch auf dem Handy geladen werden, so dass jeder, der so ein Freistellung hat, in Diskussionen, in denen die „öffentliche Schreibung“ der gendergerechten Sprache auch im Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt, sich nach dem Vorzeigen des Attestes zu Wort melden und sich damit auf eine Art und Weise einbringen und kann, wie es zu seinen literarischen Arbeiten passt.

 

Wie wäre das?

 

 

Michael Schulte

 

Michael Schulte

„Ich freu mich schon auf die Hölle“

 

 

Michael Schulte ist am 20. Juni 2019 gestorben. In der „Zeit“ stand einst: „Über Michael Schulte brauchen wir nicht lange zu reden, ihn kennt jeder.“ Das stimmt nicht. Zwar hatte Michael Schulte zeitweise eine gewisse Bekanntheit, ich bin keinesfalls der einzige seiner hartnäckigen Leser – mir fallen aus alten Tagen noch Thommie Bayer und Thomas C. Breuer ein. Doch wir waren eine verschworene Minderheit. Wir fühlten uns wie Insider, die Zugang zu Geheimwissen hatten.

Michael Schulte war einer unserer lebenden Helden aus der Welt der Literatur, wie auch der (ebenfalls wegen seinem Humor unterschätze) Kurt Vonnegut, den Michael Schulte übersetzt hat. Das hat auch Harry Rowohlt getan. Beide waren nicht nur Vonnegut-Übersetzer, sie waren obendrein Vonnegut-Versteher, ja, sogar Vonnegut-Botschafter, und beide gehörten selber – wenn schon nicht zu den Schwergewichten so doch – zu den Mittelgewichten des Großen Humors.

 

„Der Humorist geht gleich dem Raubtier stets allein“

Was meine ich damit? Ich meine einen herzlichen Humor, der die Welt aus den Angeln hebt und uns einen Augenblick lang das Gefühl gibt, dass wir jederzeit auf Neustart gehen, noch einmal von vorne anfangen können – und dass alles auch ganz anders sein könnte. Es ist nicht nur irgendetwas falsch an den Zeitumständen, es ist eigentlich alles falsch. Die Welt passt nicht zu einem Humoristen, der – wie Sören Kierkegaard sagt – „stets allein geht“.

„Ein einsamer Cowboy, der durch Texas ritt und so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt war, dass er nicht auf den Weg achtete, fand sich plötzlich in einem Film wieder. Er blickte von der Leinwand in einen dicht besetzten Kinosaal. Offenbar handelte es sich um eine Pressevorführung, denn später sah er, wie ein Kritiker der New York Times folgende Bemerkung in seinen Notizblock schrieb: ‚Völlig unmotivierte Einführung einer neuen Hauptfigur.’“

Toll. Wir haben seine Bücher nicht nur bewundert, wir haben sie gern gehabt. Sie waren voller Übermut und Leichtsinn, sie machten Laune und ließen einen mit einem guten Gefühl zurück. Als wäre man frisch gebadet und könnte über den Zustand der Welt nur noch den Kopf schütteln. Seine Komik war eine Trumpfkarte, mit der man jede Bitterkeit ausstechen konnte. In der ‚Stuttgarter Zeitung‘ hieß es, dass man in den Büchern – es war sogar von einem „Schulte-Virus“ die Rede – „dem Glück begegnen“ könne.

„Ich will reich werden, möge es kosten, was es wolle. In Finnland bezahlt die Regierung, habe ich gehört, für jeden erlegten Wolf eine Prämie von ungerechnet 500 DM. Das wäre etwas – nach Finnland ziehen und heimlich eine Wolfszucht betreiben. Klein anfangen, an jedem Ersten im Monat seinen Wolf schießen und bei den entsprechenden Behörden abliefern. An Ideen mangelt es nicht …“ 

 

Nur Spaß ist mehr als nur Spaß

In der Tat: An Ideen mangelte es nicht, Michael Schulte war ein Ideen-Künstler, der stets einen unerwünschten Tipp auf Lager hatte. So schlägt er beispielsweise einen Preis für die originellste kriminelle Handlung vor: das „Goldene Gitter“. Oder er schlägt Briefmarken vor, die Prominente von der menschlichen Seite zeigen – Anregung: der Bundespräsident auf einem Gartenfest, wo er sich versehentlich die Hosen mit Rotwein bekleckert.

Elvis – jetzt kommt’s raus – hatte eine Tätowierung auf dem Bauch mit der Inschrift NEUSCHWANSTEIN, und nach seinem Tod kommt Elvis auf die Insel der Totgesagten, wo er den leicht vergreisten Adolf Hitler trifft, der ihn versehentlich mit „Erwin“ anredet.

Witzig? Ich finde ja. Oder wie wäre es damit? Eine historische Tragödie, 1. Akt in der Kapitänskajüte der Santa Maria. Der Offizier kommt erregt durch die Tür und meldet, dass die Mannschaft meutert. Kolumbus schlägt vor, der Offizier solle der Mannschaft doppelten Sold versprechen. Der Offizier sagt: „Okay!“ Kolumbus verwirrt: „Was?“

Auf dem Umschlag von dem Buch Stiefmuttertag wird extra gewarnt: „Ein schreckliches Buch. Es enthält garantiert keine Aussage. Es macht nur Spaß. Sonst nichts.“ Aber „nur Spaß“ ist eben mehr als einfach nur Spaß.

 

Die Spaßvögel sind tot

Mit ihm – so kommt es mir jedenfalls vor – ist zugleich eine Epoche zu Ende gegangen, in der die Humoristen noch frech wie Oskar waren. Heute ist uns der Spaß vergangen, den Comedians wurde schon an anderer Stelle ein Nachruf geschrieben, in den USA meiden die Spaßvögel die Universitäten, es ist für sie in Zeiten von political correctness zu gefährlich geworden. Sie halten lieber den Schnabel.

Da wir gerade von Vögeln reden: Im Englischen werden Komödianten und Narren gerne als canary in the coalmine bezeichnet. Kanarienvögel wurden früher mit in die Minen genommen, wenn sie tot umfielen, war es ein Alarmzeichen; es bedeutete, dass giftige Gase aufgetreten waren und die Arbeiter sofort an die frische Luft mussten. Die Vögel waren ein lebendes Frühwarnsystem. Erst starb der Vogel, dann der Arbeiter. Das gilt nicht nur für Bergmänner. Der Tod der Spaßvögel sagt etwas über den Zustand der Gesellschaft.

John Cleese von Monty Python oder Harald Schmidt klagen ohne jedes Augenzwinkern, dass sie es heute nicht mehr wagen würden, Scherze zu reißen, die sie früher noch problemlos machen konnten. Auch Michael Schulte gehört noch in die Zeit vor dem Euro, vor amazon und vor kindle – er gehört in eine Zeit, als ein Sternchen* noch auf eine Fußnote hingewiesen hat und nicht auf die Selbstdarstellung von Wichtigtuern, die zu den Sternen der moralischen Überheblichkeit greifen und mit ihren vorgetäuschten Empörungen und vorschnellen Verurteilungen die Luft verpesten und das Humor-Klima vergiften.

 

Die Entdeckung des Tiefsinns im Blödsinn

Michale Schulte, geboren 1941, war der schlechteste Mathematikschüler Bayers. Soviel ist sicher. Auf einer Liste im Kultusministerium in München rangierte die Schule, auf die der kleine Michael ging, an letzter Stelle und er war der Letzte in seiner Klasse. Er war ein schwieriger Schüler. Als er gefragt wurde, was er werden wollte, antwortete er: Cowboy. Ungewöhnlich für einen Bayern. Später ist er tatsächlich nach Amerika gegangen.

Man darf die frühen Einflüsse keinesfalls unterschätzen. Als Kind hatte ihn der geheimnisvolle Kindervers stark beeindruckt, der da lautet: „Der Elefant von Celebes/ hat hinten etwas Gelebes/ Der Elefant von Borneo/ der hat dasselbe vorneo“ – es hat ihn nicht mehr losgelassen. Er konnte nicht anders. Er musste eines Tages – Jahre später – nach Borneo und Celebes reisen und ein Buch darüber schreiben: Bambus Coca-Cola Bambus.

Als er einen Plattenspieler geschenkt kriegte, in der Absicht, ihn zur klassischen Musik zu führen, hört er sich Platten von Karl Valentin an. Seine Eltern konnten nicht ahnen, dass sich damit sein Schicksal vorzeichnete, sie lachten darüber, dass er lachte. Valentin selber fanden sie nicht komisch, sie fanden es nur komisch, dass ihr kleiner Michael diesen Valentin so komisch fand. Er selber sagt über die damalige Zeit: „Der Tiefsinn im Blödsinn war unbekannt, man hielt sich gnadenlos an den Blödsinn des Tiefsinns.“

Als er in Göttingen studierte, ging er in eine Buchhandlung, um endlich eine Karl-Valentin-Biografie zu erwerben. „Die gibt es nicht“, wurde ihm gesagt. „Macht nichts“, sagte er, „dann schreibe ich sie mir selbst“. Er bot den Plan dem Rowohlt-Verlag an und verliebte sich gleichzeitig in eine Buchhändlerin mit Brille, weil er Brillenfetischist war.

Das wusste sie aber nicht. Als sie zu ihm nach Hause kam, hatte sie sich zur Feier des Tages Kontaktlinsen gekauft. Es war sein Katastrophentag, schon am Vormittag des Tages hatte er eine Absage vom Rowohlt-Verlag erhalten. Drei Wochen später kriegte er wieder Post. Rowohlt hatte sich das anders überlegt, sie wollten nun doch, dass er sich an die Arbeit macht. Michael kam sich vor, als hätte er den Nobelpreis gewonnen, er rief die Buchhändlerin ohne Brille an und kaufte Sekt. Aber sie enttäuschte ihn. Sie war nicht beeindruckt. Sie hatte im Lexikon nachgeguckt und festgestellt, dass Karl Valentin nicht einmal im Lexikon verzeichnet war. „Dann ist eben das Lexikon Scheiße“, brüllte er.

Eine Welt, in der Karl Valentin keinen Ehrenplatz hatte, war nicht die richtige Welt. Also musste er ran. Christof Stählin – über den es hier ein kleines Porträt gibt – war sogar der Meinung, dass Valentin eine größere Bedeutung hätte als Brecht (aber das hatte er nur so dahingesagt und hing mit seiner Geringschätzung von Brecht zusammen, der seinerseits Valentin schätze), doch die Valentin-Verehrer waren damals tatsächlich noch gewisse Ausnahmeerscheinungen.

Nun googeln Sie mal: Wenn Sie nach „Michael Schulte“ suchen, drängelt sich sofort der Schlagersänger gleichen Namens vor, doch wenn sie den Suchbefehl „Michael Schulte Valentin“ eingeben, sehen Sie, dass der Humor von Künstlern, die in keine Schublade passen, nicht totzukriegen ist. Auch nicht in einer Zeit, in der die Kanarienvögel tot umfallen.

 

Die richtige Frau zur richtigen Zeit

Ich kannte ein paar Bücher von Michael Schulte und hatte ihn schon angeschrieben. Ich glaube, ich hatte auch eine Postkarte von ihm. Mehr nicht. Eines Tages klingelte das Telefon – Es war nicht „eines Tages“, es war genau gesagt Silvester, ich lebte damals in Hamburg. „Hier ist Michael Schulte“, hieß es am anderen Ende der Leitung, „ich bin gerade in Hamburg und telefoniere mein Adressenverzeichnis durch und bin beim Buchstaben L. Wenn du zufällig gerade eine Party hast, dann würde ich kommen.“ Ich hatte zufällig gerade eine Party. So lernten wir uns kennen. Michael wollte bei der Gelegenheit wissen, ob ich zufällig auch noch eine Freundin für ihn hätte.

Das war nicht nötig. Michael hatte Glück bei Frauen (abgesehen von seiner ersten Ehefrau, einer Amerikanerin, die ihn um „Hab, Gut und Geld“ brachte). Besonders mit einer Frau hatte er richtig Glück. Bei seinen Plänen mit Karl Valentin stieß er überall auf Hindernisse und kam nicht an das Material heran. Keiner, der etwas von Valentin hatte, wollte ihm das zur Verfügung stellen, alle wollten das selber ausschlachten. In seiner Verzweiflung rief er die Tochter von Karl Valentin an, die noch lebte. Er konnte sie begeistern – und sie gab ihm alles.

Auch mit Freunden hatte er Glück. Im „Froschkönig“ und im „Diener“ arrangierte er Treffen, zu denen einige Freunde extra von weit her nach Berlin anreisten. Er war auch mit toten Literaten befreundet und fragte in die Runde, welchen Schriftsteller man gerne zu Lebzeiten getroffen hätte, um womöglich mit ihm befreundet zu sein. Ich hatte mich spontan für Mark Twain entschieden. Er selber für Jean Paul, der bekanntlich ein Buch als „langen Brief an Freunde“ bezeichnet hat.

Wie mit Frauen, so auch mit Freunden. Michael hatte nicht nur Glück. In seinem wohl persönlichsten Buch Ich freu mich schon auf die Hölle erwähnt er seinen „besten Freund, der sich erhängt hat, wofür ich ihn heute noch umbringen könnte.“

 

Und hier noch von Ludwig Lugmeier ein …

Nachruf auf Michael Schulte

„Ich freu mich schon auf die Hölle“ – vor 14 Jahren brachte der Picus Verlag dieses autobiographische Buch auf den Markt, schön aufgemacht, ordentlich lektoriert, auf dem Cover ein anfangs der 50er Jahre geschossenes Foto: Familienbild mit Michael Schulte, einem blonden, schmalbrüstigen Jungen in gestreifter bis zum Nabel hochgezogener Wollbadehose. Mit 78 Jahren, am 20. Juni nachmittags 4 Uhr, ist er schließlich zur Hölle gefahren. Ich ruf ihm ein Farewell hinterher und: Sei so gut alter Freund, beleg für mich einen Platz, nicht zu nahe am Feuer, sonst verkohlt mir der Bauch, nicht zu fern, sonst vereist mir der Arsch, und so, bitteschön, dass ich die Beine ausstrecken kann. Die Ewigkeit zieht sich ja hin, aber, dessen warst Du Dir schon zu Lebzeiten gewiss, für unsereins in höllisch guter Gesellschaft. Die mit angefaulter Zunge im Maul: alle droben im Himmel – dem Teufel sei Dank! Im tiefsten Höllengrunde dagegen die pataphysische Zunft. Da hockt das Gespenst der Freiheit Luis Buñuel auf den Schultern. Da jagt Max Ernst die Welt in die Luft, denn auf den Kopf stellen lässt sie sich nicht, da sie keinen besitzt. Da zertrampelt Jean Genet seinen Heiligenschein, und der heiligen Musik sägt John Cage die Stimmbänder durch. Du kennst ihn ja aus New York. Und Marcel Duchamp und Man Ray und Eugène Iosnesco und Chico, Harpo, Gummo, Groucho und Zeppo – nun, die waren wiederum bei Dir zu Besuch, da oben an der dänischen Grenze, als Grenzgänger, als sprechende Schatten. Hoffentlich, Michael, hoffentlich wird’s nicht zu eng in der Hölle. Und hoffentlich hat Alfred Jarry seinen König Ubu einzuschleusen verstanden. Von Rechts wegen gehört der Drecksack zwar in den Himmel, zu den Königen und Kardinälen, zu den Pfaffen und Henkern, aber – Merdre und Schoiße! –, Alfred Jarry hat ihn schließlich mit seinem Odem belebt. Er würde uns fehlen, und zwar ganz gewaltig. Wenn er aber dort ist, wenn er sich im Kotkessel suhlt, wenn er säuft, frisst und ratzt, wenn er schnarcht, furzt und neben den Speibeutel kotzt, dann machen wir uns endlich her über die Komödie, die wir uns ausgedacht haben, da oben bei Dir, hinterm Haus auf der Helle im winddurchpfiffenen Garten: Die schröckliche Geschichte von König Ubus rotzgrünen Söhnen. 

 

 

Peter Handke im Wald

Wie sollen wir leben? Was ist das Glück?

Zusammen mit dem Schriftsteller Ludwig Lugmeier war ich in dem neuen Dokumentarfilm von Corinna Belz über Peter Handke. Wir waren neugierig. Was würde uns erwarten? Würden wir etwa einen Showdown virtuoser Formulierungskünstler erleben, als würde ein Herausforderer wie Michael Krüger gegen Peter Handke antreten, um sich einen Kampf der Wortgiganten zu liefern, bei dem sich noch in der neunten Runde nur ein knapper Sieg nach Punkten abzeichnet und immer noch keiner den anderen k.o.-gequatscht hat?

Die Eintrittskarte wirkte verdächtig. Der vollständige Titel ‚Peter Handke – bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte’, war nicht in voller Länge ausgedruckt, der Titel ist zu lang, er passt nicht in eine Zeile und mitten in „bin im Wald“ hörte die Zeile auf und ließ nur das „i“ aus dem „im“ zurück, so dass auf der Eintrittskarte der Film auf gut Bayrisch hieß: „Peter Handke bin i“ – und damit zu Befürchtungen Anlass gab, dass wir es mit einer Beweihräucherung zu tun haben würden, die das abgehobene Ego eines Großschriftstellers in den Mittelpunkt stellt.

So war es nicht. Ganz und gar nicht. Es war ein bewegender Film zu der großen Frage: Wie sollen wir leben? Ich will nicht allzu viel verraten; ich will nur einen Teil der Fragestellung aufgreifen, die Frage eingrenzen und etwas umformulieren: Mit wem sollen wir leben?

Zwar wusste ich schon, dass Handke mit seiner Tochter – wie wir heute sagen würden – als „Alleinerziehender“ gelebt hatte, doch ich hatte es glatt wieder vergessen, nun konnte ich Handke wiederentdecken als jemanden, für den das Leben mit einem Kind zu einer bedeutenden Selbstverständlichkeit gehört.

Sein Buch mit dem unscheinbaren Titel Kindergeschichte war sein letzter Bestseller, jedenfalls fand es sich auf entsprechenden Listen – das war, lang ist es her, im Jahre 1981. Da war er als „Heranwachsender“ mit seinem Kind zusammen.

Peter Handke spricht auch heute noch – auch im Film – über sich in der dritten Person, er tut es offenbar gerne, so wie ich es früher auch getan habe, als ich als Kind Indianer gespielt und mich als großen Häuptling Spitze Feder gesehen habe. Es heißt in der Kindergeschichte:

„Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es, später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer wortlosen Gemeinschaftlichkeit, von kurzen Blickwechseln, einem Sich-dazu-Hocken, einem unregelmäßigen Scheitel im Haar, eine Nähe und Weite in glücklicher Einheit.“

Schon beim ersten Anblick des Kindes spürt der Heranwachsende, dass er nun ein für alle Mal mit dem Kind eine verschworene Gruppe bilden wird, die ihm zur „einzig gültige Wirklichkeit“ wird. Er nimmt es der Mutter übel, dass sie das Berufsleben vorzieht und sich nicht der unbedingten Notwendigkeit stellt und er verachtet all diejenigen, die ihm eine andere Lebensweise aufreden wollen. Er spürt deutlich, dass er den gesamten Zeitgeist gegen sich hat und dass ihn die Dringlichkeit des politischen Lebens immer wieder herausruft aus der Enge und Gefangenschaft des Häuslichen mit dem bequemen Glück der Zweisamkeit.

Es ist kein reines Glück. Es ist nicht immer nur das Anwehen des Paradieses zu spüren, das sowieso nur unauffällig und beiläufig auftritt, es ergeben sich genauso tiefe Momente des Versagens, des Ungenügens und Momente einer Schuld, die so heftig sind, dass er das Gefühlt hat, als würde er – um es ausnahmsweise in meinen Worten zu sagen – vor der höchstmöglichen Instanz in Ungnade fallen. Als Peter Handke sein Kind in einem Zornesanfall schlägt, schreibt er (wieder über sich in der dritten Person):

„Das Entsetzen des Täters war fast gleichzeitig. Er trug das weinende Kind, selber bitter ermangelnd der Tränen, in den Räumen umher, wo überall die Tore des Gerichts offenstanden, mit den schalltoten Hitzestößen der Posaunen …“

Die Formulierung von den „schalltoten Hitzestößen der Posaunen“, fand ich damals schon übertrieben, ja geradezu lächerlich, das war 1981, als ich, selber noch kinderlos, das Buch zum ersten Mal gelesen hatte. Ich dachte nur: Geht’s vielleicht auch ne Nummer kleiner? Doch womöglich war es gerade die Übergröße der Formulierung, die bewirkt hatte, dass mir der Wortlaut bis heute in Erinnerung geblieben ist. Weiter heißt es über die erwähnte dritte Person, also über den Täter:

„Erstmal sah sich der Erwachsene da als einen schlechten Menschen; nicht bloß ein Bösewicht war er, sondern ein Verworfener; und seine Tat konnte durch keine weltliche Strafe gesühnt werden. Er hatte das einzige zerstört, das ihm je das Hochgefühl von etwas dauerhaft Wirklichem gegeben hatte, das einzige verraten, das er je zu verewigen und zu verherrlichen wünschte. Als Verdammter hockt er sich zu dem Kind und redet es an …“

Ludwig, der selber keine Kinder hat, erzählte mir, als wir wenig später bei Rotwein und Tapas den Film verdauten, dass er vor vielen Jahren einer Frau ins Gesicht geschlagen und dass es das Widerwärtigste gewesen wäre, das er jemals getan hätte. Zwar wäre er besoffen gewesen, doch das könne keine Entschuldigung sein. Ich wiederum weiß von einer Frau, die vor über zwanzig Jahren ihren Dreijährigen verprügelt hatte, die es immer noch bereut, ihn schon mehrfach um Verzeihung gebeten hat und es immer noch tut. Von einer anderen Frau, die sich inzwischen in Frömmigkeit geflüchtet hat, weiß ich, dass auch sie eine unselige Zeit mit ihrem Kleinkind hatte und dass sie dann, wie sie es nannte, „den anderen Weg“ gegangen ist.

Wir haben viel geredet. Über Peter Handke, über Edmund Husserl und seine Methode, einzelne Phänomene aus Zusammenhängen zu lösen, aber eben auch über private, über sehr intime Dinge. Ich erwähne das, um erneut zu unterstreichen, dass dies kein Literatur-Fuzzi-Film ist. Es geht nicht um Papierkram. Der Film löst große Gefühle aus. Wer hätte das gedacht? Man erwartet von Peter Handke, dass er andersgelbe Nudeln in Einzelheiten beschreibt und jedes Blatt, das vom Baum gefallen ist, zweimal umwendet, ehe er es wieder beiseitelegt und dass er sich im Kleinen und Klitzekleinen verliert.

Doch er schreibt über die großen Tatsachen des Lebens, die erst erkennbar werden, wenn wir uns ungeschützt ausliefern, wenn das Gerümpel des Vorgestanzten und Vorgemeinten beiseite geräumt ist und die eigengesetzliche Lebenswelt mit seiner ganzen Wucht wirksam wird. Dann erscheinen uns auch seine übergroßen Worte, die ins Subjekt gegossenen Gedenksteine aus den persönlichen Weltkriegen, am rechten Platz.

Er erklärt ausführlich seine Gegnerschaft zu den Kinderlosen, zu den „Wustmenschen“, zu denen, die die Kulissen der Aktualität für die allein gültige Wirklichkeit halten und lässt den großen Häuptling, der bekanntlich niemals mit gespaltener Zunge spricht, ausführlich zu Wort kommen:

„Später sollte er es noch des öfteren mit weit ärgeren überzeugt-Kinderlosen zu tun bekommen, einzeln oder in Paaren. In der Regel hatten sie einen scharfen Blick und wussten auch, selber in furchtbarer Schuldlosigkeit dahinlebend, im Expertisendeutsch zu sagen, was an einem Erwachsenen-Kind-Verhältnis falsch war; manche von ihnen übten solchen Scharfsinn sogar als ihren Beruf aus.“

Der Heranwachsende, der inzwischen unmerklich zum Erwachsenen und zum Täter geworden ist, der Schuldbeladene, der Alleinerziehende lebte im ständigen Zerwürfnis mit den Besserwissern und ihren wohlfeilen Naseweisheiten, die selber nur in die eigene Kindheit und in das eigene fortgesetzte Kindsein vernarrt waren und sich in der Nähe als ausgewachsene Monstren erwiesen. Es gab – damals schon – die für ihn so bezeichnende Konstellation: Peter Handke gegen den Rest der Welt. Einer gegen alle.

Mir wurde sofort klar, warum ich von der Prosa schon damals so tief beeindruckt war: Peter Handke meidet gewöhnliche Ausdrücke. Er bemüht sich, Sätze zu finden, die einem wie Uraufführungen vorkommen; Sätze, die man so noch nie gelesen oder gehört hat und die einen die Welt so sehen lassen, als sähe man sie zum ersten Mal, auch wenn da gelegentlich die Posaunen erklingen. Und noch etwas: Ich habe dahinter stets das Bemühen um Aufrichtigkeit gesehen. Wie soll ich sagen? Um Ehrlichkeit? Wahrhaftigkeit? Dass Handke hart und hemmungslos gegen sich selbst sein kann und dass er seine Wunden vorzeigt, hat mich ermutigt, das auch im Umgang mit mir selbst zu probieren und mich besser kennen zu lernen.

Ich habe die Kindergeschichte gleich noch mal gelesen. Diesmal als jemand, der inzwischen mit einem kleinen Kind gelebt hat. Es hat mich – um es in einem gewöhnlichen Satz zu sagen – stark berührt. Deshalb will ich ihm das letzte Wort erteilen, aber vorher noch einmal darauf hinweisen, dass das Zusammensein mit einem Kind nur eine Szene aus dem Film ist, über den Ludwig zusammenfassend gesagt hat, dass es darin nichts gäbe, das ihm nicht gefallen hätte. Hier also noch etwas aus der Kindergeschichte:

„Er verfluchte diese selbstgerechten kleinlichen Propheten als den Auswurf der modernen Zeiten, hob vor ihnen das Haupt und schwor ihnen die ewige Unversöhnlichkeit. Bei dem antiken Dramatiker fand er den ihnen gebührenden Bannfluch: Sind Kinder allen Menschen doch die Seele. Wer dies nicht erfuhr, der leidet zwar geringer, doch sein Wohlsein ist verfehltes Glück.“

 

 

Trailer zu Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte

 

Schreibende – keine Angst. Die tun nichts!

 

Was ist los mit den Schriftstellern in Deutschland? Haben sie sich inzwischen aus der Politik verabschiedet und ihren Beruf an den Nagel gehängt? Es sieht ganz danach aus. Manche hatten es schon geahnt: Schriftsteller! Ach, die nun wieder. Die haben doch sowieso nichts zu sagen. Schriftsteller ist auch kein richtiger Beruf.

 

Nun ist es passiert. Der Berufsverband der Schriftsteller VS hat sich aufgelöst und in seine Bestandteile zerlegt. Nein. So kann man das nicht sagen. Der Verband hat sich umbenannt und sich von der Berufsbezeichnung „Schriftsteller“ verabschiedet.

 

Warum? Einige der Schriftsteller leiden unter einer neuen Unverträglichkeit; sie leiden unter einer Art von Allergie gegen ihre Berufsbezeichnung, die sie früher gemocht haben und auf die einige sogar stolz waren. Doch der Stolz ist dem Leiden gewichten und heute gilt: Wer leidet, hat recht – und so versuchen die bedauernswerten Rechthaber die inzwischen lästig gewordene Bezeichnung „Schriftsteller“ zu meiden. In der neuen Broschüre des ehemaligen „Verbandes der Schriftsteller VS“ heißt es ersatzweise: „Der VS ist der Berufsverband für Schreibende

 

Ich könnte also, wenn ich nächstes Mal nach meinem Beruf gefragt werde, antworten: „Ich bin Schreibender!“ Ich fürchte jedoch, dass das dann erst recht nicht als Beruf angesehen wird. Nebenbei hat sich der Schreibende damit auch aus der aktuellen Diskussion um das Urheberrecht verabschiedet. Die findet ohne ihn statt. Der Schreibende braucht keinen Schutz des Urheberrechts. Noch nicht.

 

Der Berufsverband hat noch einen zweiten Namen. „Berufsverband für Schreibende“ nennt er sich auf den ersten Blick, der auf das obere Ende der ersten Seite der neuen Broschüre fällt. Am unteren Ende, wohin der zweiter Blick fällt, steht: „VS Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di“. Dann wäre also jemand, der früher „Schriftsteller“ genannt wurde, heutzutage ein „Schreibender im Verband der Deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller“. Was sollen wir uns darunter vorstellen?

 

VS

 

Das sehen wir im Mittelteil der erwähnten Broschüre. Da finden wir hübsch gestaltete Stichworte, die uns erste Hinweise geben, was wir uns unter den „Schreibenden“ von heute und unter denjenigen, die sich neuerdings als Teil des Zweierpacks „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ sehen wollen, vorstellen mögen – nämlich:

 

Performer – Schriftsteller – Schriftstellerinnen – Autorinnen – Übersetzerinnen – poetry slammer – Übersetzer – BloggerX – Wortstellerinnen – Drehbuchautoren – TV Film – Wortsteller – Romanciers – Geschichtenerzähler – Sachbuch-Hörspiel-Autoren – Essayisten – Rhapsoden – Lyrikerinnen – Lyriker – Wortwerker

 

Zunächst fällt auf, dass die Vermeidung der ungeliebten „männlichen Form“ – wie bei „Schriftsteller“ – nicht konsequent durchgehalten wird, obwohl es doch gerade das Anliegen der Initiative zur Umbenennung war, diese Form, die man neuerdings „generisches Maskulinum“ nennt, zu meiden.

 

Der erste Begriff auf der bunten Spielwiese (die vermutlich zeigen soll, wie fantasievoll die Schreibenden heutzutage sind) lautet „Performer“, der letzte „Wortwerker“. Es heißt nicht etwa, wie man erwarten kann, „Performende“ oder „Performerinnen und Performer“, es heißt auch nicht „Wortwerkende“ oder „Wortwerkerinnen und Wortwerker“.

 

Warum eigentlich nicht?

 

Sehen wir mal ab von der Frage, ob „Performer“ und „Wortwerker“ geeignete Beispiele sind, um das Berufsbild der „Schreibenden“ zu erklären, es stellt sich ernsthaft folgende Frage: Warum stören sich die „Schreibenden“ beziehungsweise diejenigen, die zukünftig „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ genannt werden wollen, an diesen Stellen nicht an der sonst als so schädlich angesehenen „männlichen Form“?

 

Warum bestehen sie darauf, die Bezeichnung „Schriftsteller“ zu ersetzen oder zu ergänzen, nicht aber die von ihnen selbst neu in die Debatte geworfenen Bezeichnungen „Performer“ und „Wortwerker“, die sie obendrein prominent platziert haben? Sie trumpfen regelrecht damit auf, als wollten sie sagen: Seht her! Es geht auch ohne Doppelnennung, es geht auch ohne Partizip.

 

Wieso geht es? Da liegt doch dasselbe Problem vor.

 

Ich sehe es nicht als Problem. Aber wenn die empfindsamen Seelen von heute es als Problem sehen und zwar als eines, das ihnen dermaßen wichtig ist, dass sie – koste es, was es wolle – auf einer Umbenennung bestehen, dann sollen sie bitte erklären, warum sie in einem Fall ihre Auffassung vom ihrer Meinung nach richtigem Sprachgebrauch anwenden, in einem anderen Fall aber nicht. Mal so, mal so. Mir kommt es vor, als würde jemand ausrufen „Nieder mit dem Alkohol!“, um daraufhin demonstrativ zwei Schnäpse zu trinken.

 

Sehen wir uns die Bescherung näher an. Es geht gleich mit einem Eigentor los: Performer sind keine Schreibende. Schreibende sind keine Performer. Sie können auch keine sein. Ich vermute mal, dass die Schreibenden mit diesem unerwartetem Begriff sagen wollen, dass manche von ihnen gelegentlich aus ihren Büchern vorlesen und dass diese Lesungen keineswegs so langweilig sind, wie es viele in Erinnerung haben, so dass ihnen herkömmliche Bezeichnungen wie „Vorleser“ oder „Vorlesende“ nicht geeignet erschienen und sie eine Lesung lieber als etwas sehen wollten, das einer Kunst-Performance nahe kommt. Oder einem Ausdruckstanz. Mag sein. Doch es bleibt dabei: Performer und Schreibende – das passt nicht zusammen.

 

Es sei denn, es handelte sich bei dem Akt um eine Performance, die darin besteht, dass der Performer gerade schreibt. Dann stimmt es. Sonst nicht. Denn dem Performer geht es nicht um das Ergebnis seiner Performance, also in unserem Fall um das Produkt des Schreibens, sondern um die Performance selber, also allein um den Vorgang des Schreibens, der zunächst für niemanden außer für denjenigen, der gerade damit beschäftigt ist, von Interesse ist. Sicher: Urs Widmer hat einst in seinem Buch ‚Das Paradies des Vergessens’ geschrieben: „ … das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch“. Aber: Das war ein Scherz!

 

Wer interessiert sich für Schreibende? Ich nicht. So ein Schreibender soll erst mal fertig werden. Dann soll er das Geschriebene noch mal in Ruhe durchlesen und das ganze einem Lektor anvertrauen. Wenn es irgendwann veröffentlicht wird, will ich gerne einen Blick darauf werfen. Aber vorher? Nur wenn es ein Freund von mir ist ­– oder gegen Geld, weil ich für die Lektoratstätigkeit bezahlt werde.

 

Was also sind Schreibende? Schreibende können von sich sagen, dass sie Leute sind, die keine Schriftsteller sind. Noch nicht. Sie sind noch nicht so weit. Die neue Parole des Verbandes lautet also: Gehe zurück auf Los, ziehe nicht 4000 Euro ein, fange von vorne an. Ganz von vorne. Mit dem nackten Akt des Schreibens, losgelöst von möglichen Folgen.

 

Der Schreibende ist wie das Vieh an den „Pflock der Gegenwart“ (Nietzsche) gekettet, er bleibt an der „Gegenwart kleben“ (Schopenhauer). Er wird schon noch merken, wie weit er kommt, wenn er immer nur im Präsens schreibt. Ein Schriftsteller von früher wusste, dass er damit nicht weit kommt. Ein Schriftsteller von früher wusste auch, dass ein Partizip stets einen Vorgang vor seiner Vollendung bezeichnet. Ein Schreibender hat nicht etwa „fertig“, wie man heute gerne sagt, er hat noch gar nicht richtig angefangen.

 

Man kann den Faktor Zeit nicht ausblenden und sich mit einer allumfassenden Gegenwart begnügen. Zeit spielt sowohl für das Schreiben selber (Erzählzeit und erzählte Zeit), als auch für die Berufstätigkeit eine zentrale Rolle. Der Schriftsteller von früher, der seine Tätigkeit als Beruf ansah, war ein Geschrieben-Habender (der Vorgang des Schreibens lag in der Vergangenheit). Er war jemand, der aus dem Umgang mit seinen fertigen und erfolgreich veröffentlichten Büchern und aus dem Handel mit den damit verbundenen Urheberrechten einen Beruf gemacht hat. Das Reflektierte stand dabei über dem Unmittelbaren. Das Geformte über dem Improvisierten. Das Geistige über dem Körperlichen.

 

Na gut, ich gebe zu, dass das Schreiben das eigentlich Schöne an dem Beruf ist, da hat Urs Widmer in gewisser Weise recht – vermutlich hat er es in dem Sinne gemeint. Es gibt viele von uns – und dazu gehöre ich auch –, die selbst dann noch schreiben würden, wenn sie keinen Beruf daraus machen können. Viele haben einen zweiten Beruf. Denn das Schreiben selber, so schön es ist, ist noch nicht gesellschaftlich vermittelt, mit dem Schreiben bleibt der Schreibende (jetzt habe ich den Begriff selber verwendet – und zwar mit Absicht) bei sich. Er tut etwas, das ihn glücklich macht. Er tut sich etwas Gutes. Schön. Das ist aber nur ein erster Schritt, der nicht für sich alleine stehen kann. Der Schreibende vergisst während des Schreibens – zumindest phasenweise –, dass er in einer Gesellschaft mit anderen lebt.

 

Doch die Welt wird nicht angehalten. Sie dreht sich weiter. Gerade ist die Aktion ‚Autoren helfen Flüchtlingen’ angelaufen. Da sind es Autoren. Nicht etwa Autorinnen und Autoren oder Autor-Seiende. Es sieht zwar stark nach einer Aktion aus, bei der es mehr um Selbstdarstellung als um echte Hilfe geht, aber – immerhin – da tut sich was. Es wird uns eindrucksvoll vorgeführt, wie schwer es nicht nur überforderten Politikern, sondern auch routinierten Autoren fällt, ihre aufrechte Gesinnung in Worte zu fassen, die nicht grottenpeinlich wirken. Es geschieht etwas, wenn Autoren die überflüssige und schädliche Trennung der Geschlechter einen Moment lang nicht in den Vordergrund stellen, wenn sie zusammenfinden und solidarisch als Gemeinschaft tätig werden. Autoren können dann vielleicht sogar anderen helfen.

 

Schreibende können nur schreiben.

 

 

Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder

 

william

Wissen deutsche Schriftsteller noch, wie sie heißen und was sie sind?

Wollen sie gleichgestellt werden?

Warum lügen Sexisten so gerne?

 

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Teil 2

 

william

Mögen deutsche Schriftsteller Sex in der Gruppe?

Wollen sie aufklären oder wollen sie betrügen?

Sie müssen sich entscheiden.

 

Im ersten Teil wurde berichtet, dass der Verband der deutschen „Schriftsteller VS“ überlegt, sich in Verband deutscher „Schriftstellerinnen und Schriftsteller VSS“ umzubenennen, um den Gleichstellungsaspekt zu berücksichtigen. Ich habe erklärt, was Gleichstellung bedeutet: Es setzt ein gruppenbezogenes Denken voraus, bei dem die Gruppenbildung nach einem sexistischen Kriterium erfolgt – nämlich nach der nackten Geschlechtszugehörigkeit. Damit hat sich eine neue Art von Sexismus breit gemacht. Die neuen Sexisten haben ein natürliches Überlegenheitsgefühl, was dazu führt, dass sie ihre Vorstellungen vom richtigen Sprachgebrauch gar nicht erst zur Diskussion stellen, sondern mit Macht durchsetzen wollen. Was bedeutet das für Schriftsteller?

 

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Teil 3

william

Die deutschen Schriftsteller sind ratlos. Sie leiden an der Innenwelt und wissen nicht wohin mit Herta Müller

 

Was bisher geschah: Die deutschen Schriftsteller überlegen, ob sie ihren Namen ändern sollen oder nicht. Wenn sie sich wirklich, wie vorgeschlagen, in „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ umbenennen, dann reichen sie damit dem Sprachfeminismus den kleinen Finger und kämen in Teufels Küche. Sie müssten dann drei Gebote befolgen: 1. Das natürliche und das grammatische Geschlecht sind eins! 2. Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit! 3. Der Plural hat ein Geschlecht!

 

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Teil 4

 

 

william

Worauf kommt es an? Was wollen Schriftsteller? Was wollen Sexisten? Warum ist Sarah sauer?

 

Was bisher geschah: die deutschen Schriftsteller wissen nicht, ob sie sich weiterhin „Schriftsteller“ oder lieber „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ nennen sollen. Was wäre wenn?

 

 

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Teil 5

 

 

william

Deutsche Schriftsteller in der Krise. Wie sollen sie sich nennen? Wie ist ihr Verhältnis zur Natur und zur Grammatik? Wann stirbt das letzte Einhorn?

 

Was bisher geschah: Der Verband „VS Schriftsteller“ erwägt, sich umzubenennen in „VSS Schriftstellerinnen und Schriftsteller“. In bisher vier Teilen ging es darum, wie sich schriftstellerische Arbeit und Gleichstellungspolitik verträgt, bzw. eben gerade nicht verträgt: Die Gleichstellungspolitik bringt nämlich eine Vorstellung von Sprache mit sich, die drei Gebote kennt: 1. Das natürliche und das grammatische Geschlecht sind eins! 2. Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit! 3. Der Plural hat ein Geschlecht!

 

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Gefährliche Witze

 

Tim

 

 

Ein „gefährlicher“ Witz hat dem „witzelnden Professor“ Tim Hunt seine Stellung gekosten. Harald Martenstein vergleicht in der ‚Zeit’ die hysterische Stimmung von heute, in der so ein Absturz möglich ist, mit der McCarthy-Ära, „als auf alles Linke eine Hexenjagd veranstaltet wurde und als jeder zum Kommunisten gestempelt wurde, der sich mit einem Buch von Bert Brecht erwischen ließ.“

 

Ich antworte mit Fanpost:

„Lieber Harald. Hoffentlich siehst du es mir nach, dass ich dich kumpelhaft anmache und duze. Ich bin ein großer Freund deiner Texte. Es ist schon vorgekommen, dass ich eine lachende Frauenstimme aus der Küche gehört habe und als ich dann nachfragte, was denn nun schon wieder los sei – dann war Harald Martenstein los.

Dein Text über Tim Hunt ist deshalb so stark, weil er so sachlich ist, so gründlich. Du bringst das umstrittene Zitat in voller Länge:

 

„Es ist seltsam, dass ein chauvinistisches Monster wie ich gefragt wurde, vor Wissenschaftlerinnen zu sprechen. Lassen Sie mich von meinen Problemen mit Frauen erzählen. Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen. Vielleicht sollten wir getrennte Labore für Männer und Frauen einrichten? Spaß beiseite, ich bin beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Koreas. Und Wissenschaftlerinnen spielten dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Wissenschaft braucht Frauen, und Sie sollten Wissenschaft betreiben trotz all der Hindernisse und trotz solcher Monster wie mir.“

 

Wenn wir kleinlich wären, könnten wir nachfragen, ob es „heulen“ oder „weinen“ heißen muss und ob an dieser Stelle schon die Empfindlichkeiten anfangen, aber wir sind nicht kleinlich, und auf solche Feinheiten kommt es eh nicht an, denn …

 

„Daraufhin brach ein Shitstorm los, wegen Sexismus. Hunt wurde gezwungen, als Professor zurückzutreten, auch aus der Royal Society wurde er ausgestoßen. Es hat ihm nichts genützt, dass er sich entschuldigt hat. Als der Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich vor ihn stellte und den „unerbittlichen Moloch politische Korrektheit“ anprangerte, wurde auch Johnson sofort bedroht. Eine Abgeordnete sagte: „Johnson macht sich schuldig im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes.“ Hunt arbeitete übrigens in der Zellforschung, seine Forschungsergebnisse retten vielleicht Tausenden von krebskranken Frauen das Leben. Jetzt ist er erledigt, Berufsverbot, und kann niemanden mehr retten.“

 

 

 

Wie kann man das erklären? Wie kann man das verstehen?

„Du schlägst einen Vergleich vor. Das ist eine gute Idee. Denn daran zeigt sich, an welchen Stellen es Überschneidungen gibt und wo gewisse Unterschiede liegen.

 

„Mich wundert, dass keiner die Parallelen zwischen diesem Fall und den Anschlägen auf ‚Charlie Hebdo’ gesehen hat. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man Leute erschießt oder ob man sie nur beruflich vernichtet. Aber in beiden Fällen geht es darum, dass Menschen es nicht ertragen, wenn über etwas Scherze gemacht wird (werden), das sie für unantastbar halten. Und in beiden Fällen wird mit äußerster Unbarmherzigkeit vorgegangen, um ein Klima der Angst zu schaffen. Und die Akteure sind nicht „der“ Islam oder „der“ Feminismus, sondern radikale Gruppen.“

 

Mich wundert es – ehrlich gesagt – nicht, dass niemand „Parallelen“ (Plural) gesehen hat, denn es gibt nur eine Parallele (Singular). Nur an einer Stelle ist ein Vergleich sinnvoll. Ich bin froh, dass du den in aller Deutlichkeit hervorhebst: Es wird in beiden Fällen mit äußerster Unbarmherzigkeit ein Klima der Angst geschaffen. Hier wirkt die alte Weisheit von Mao Zedong: Bestrafe einen, erziehe hundert.

 

Sonst sehe ich keine Parallelen. Aber große Unterschiede. Zunächst einmal handelt es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Sorten von Witzen (wer wüsste das nicht besser als du?): Das eine ist Satire, das andere ist Humor.

 

 

Witz und Witz ist nicht dasselbe

 

„Satire greift an, Satire ist grob, Satire ist kämpferisch, Satire will verletzten, provozieren, erniedrigen; Satire stellt sich künstlich dumm und tut so, als hätte sie kein Verständnis; Satire meint, dass sie keine Grenzen beachten müsse und grundsätzlich alles dürfe, weil Kurt Tucholsky es erlaubt hat.

 

Der Humorist dagegen bezieht sich selbst mit ein. Wenn ein Humorist lacht, dann lacht er nicht nur über andere, sondern immer auch über sich selbst. Während man über einen Satiriker sprichwörtlich sagt, dass er Pfeile abschießt, so versucht ein Humorist, ein gutes Ende im Lachen zu finden, das den anderen gelten lässt.

 

Die beiden Witze unterscheiden sich damit auch in ihrem Gegenstand; denn es ist sehr wohl ein Unterschied, ob ich einen Witz über Mohamed mache oder über mich selbst. Wer ist das Monster? Bin ich es oder ist es der andere?

 

Wenn wir die beiden Witze vergleichen, merken wir schnell, dass es gar keine sind. Nun kenne ich die Cartoons von ‚Charlie Hebdo’ nicht aus eigener Anschauung und muss bei meinem Urteil einem Feingeist wie Michael Klonovsky vertrauen. Ich vermute, dass sich die Macher des Blattes darin gefielen, mit dem Feuer der kalkulierten Geschmacklosigkeiten zu spielen. Sie wussten sehr wohl, dass ihre Bilder vom Propheten kein gutes Haar an ihm ließen.

 

Ganz anders bei Tim Hunt. Er hebt die guten Haare der Frauen ausdrücklich hervor und streichelt sie. Im Vertrauen – unter uns Humoristen: Er ist sicher ein ausgezeichneter Forscher, aber kein guter Witzerzähler. Seine Bemerkung ist überhaupt nicht witzig. Sie ist ein verdruckstes Kompliment, eingerahmt in eine kokett-ironische Selbstbezichtigung, die man durchaus als misslungen ansehen, aber auch charmant finden kann. Früher haben wir uns in so einem Fall im Kreis aufgestellt und gemeinsam ausgerufen: „Witz komm raus, du bist umzingelt!“ Es kam keiner.

 

 

Um welches Heiligtum geht es eigentlich?

 

Was ist das „Unantastbare“, über das man, wie du schreibst, keine Scherze machen darf? Beim Islam ist mir das klar. Das verstehe ich. Das respektiere ich. Aber beim Feminismus? Welche heilige Kuh hat Tim Hunt geschlachtet? Ich sehe da keine Kuh. Vermutlich ist er sowieso Vegetarier und schlachtet grundsätzlich keine Kühe. Für mich klingt er wie jemand, der sich redlich bemüht, dem Feminismus nach dem Mund zu reden.

 

Die Frauen sagen es selber: Ihre große Emotionalität sehen sie als besonderen Wert und sie sind es auch, die Arbeitsplätze fordern, die nach Geschlechtern getrennt werden (was Tim Hunt nicht getan hat). Eine Gleichstellungsbeauftragte hätte es womöglich so formuliert – und ernst gemeint: „Immer noch werden Frauen am Arbeitsplatz belästigt und ins Abseits gedrängt. Das muss sich ändern. Männer sind emotional verkrüppelt und können mit den Gefühlen der Frauen nicht umgehen. Deshalb brauchen wir einen permanenten Girls’ Day, damit Frauen die Möglichkeit haben, ohne die schädliche Gesellschaft von Männern die Berufswelt zu erobern und neu zu gestalten.“

 

Was hat Tim Hunt falsch gemacht? Das vernichtende Urteil, das über Tim Hunt gefällt wurde, lautet – das hast du ganz richtig dargestellt – Sexismus! Sexismus muss etwas ganz Schlimmes sein, etwas ganz, ganz Schlimmes. Was aber ist Sexismus?“

 

 

In Nürnberg weiß man, was Sexismus ist

 

„Eine Antwort finden wir in Nürnberg, der „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. In ihrem Internetauftritt präsentiert die Stadt eine Studie „gegen Rechtsextremismus“ aus dem Jahre 2011, die von der Friedrich Ebert Stiftung erstellt wurde. Darin geht es um Intoleranz, um Vorurteile, um Diskriminierung, um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, um die „Abwertung der Anderen“.

 

Und um Sexismus: Eine wesentliche Kategorie, auf der Vorurteile und Stereotypen im Alltag basieren, ist das Geschlecht. Die mangelnde Gleichstellung von Männer(n) und Frauen in allen Bereichen des Lebens ist ein anhaltendes Thema, denn Frauen sind strukturell noch immer massiv benachteiligt.“

 

So ist das. Wer etwas einwenden will, übersieht etwas Wichtiges: „Strukturelle Chancenungleichheiten und Diskriminierungen werden dabei übersehen oder verleugnet, beispielsweise bei der Ablehnung von speziellen Frauenquoten mit dem Verweis darauf, dass sich individuelle Leistung durchsetze. Übersehen wird dabei, dass die entscheidenden Strukturen aber von Männern gemacht sind, an den Bedürfnissen von Männern orientiert sind und von Männern dominiert werden.“

 

Lassen wir die Frage beiseite, ob wir dem zustimmen oder nicht. Für die Wissenschaftler, die diese Studie besorgt haben, stellte sich das Problem, wie man Sexismus nachweisen und in Zahlen ausdrücken kann. Das haben sie folgendermaßen gelöst: Sie haben die Zustimmung zu folgenden Aussagen abgefragt:

 

Frauen sollten ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen.

Wenn Arbeitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Recht auf eine Arbeit haben als Frauen.

 

So macht man das. So kommen Ergebnisse zustande, die man in Zahlen ausdrücken kann. Eine große Zustimmung zu den Sätzen zeigt, dass im hohen Ausmaß Sexismus vorhanden ist. Ich wüsste schon – weil ich den Braten rieche –, wie ich die Sätze bewerten müsste, wenn ich mich vom Vorwurf des Sexismus reinwaschen wollte, aber ein wenig verwirrt bin ich doch. Wann wurde eigentlich das „Recht auf eine Arbeit“ eingeführt? Da muss ich gerade im Urlaub gewesen sein. Wie auch immer. Ich glaube, wir sind uns einig: Dies ist natürlich eine gaaanz andere Art von Wissenschaft als die, die Tim Hunt betrieben und für die er den Nobelpreis erhalten hat.“

 

 

Mit dem Dirndl zur Arbeit. Geht das?

 

„Immerhin wird damit etwas deutlich, das womöglich den ein oder anderen überrascht – oder die eine oder die andere oder all die, die nicht wissen, ob sie zu den einen oder zu den anderen gehören. Man kann auch in unserem Alter immer noch Überraschungen erleben.

 

Viele stellen sich womöglich etwas Falsches vor, wenn sie das böse Wort „Sexismus“ hören. Sie stellen sich vor, dass damit ein Verhalten von Männern gemeint ist, die nicht richtig auf den Sexappeal von Frauen reagieren (Dirndl, Tanzkarte, Aufschrei, Alltagssexismus … oder: Busengrapschen, Blondinenwitze …), dass es also irgendwie etwas mit der körperlichen Attraktivität von Frauen zu tun hat, die auch als „erotisches Kapital“ bezeichnet wird.

 

Aber da ist noch mehr. Da ist noch etwas anderes: Der Sexismus, um den es hier geht, wird durch die Frage definiert, wie die Bedeutung der Frauen für die Arbeitswelt gesehen wird: Ein Sexist ist demnach jemand, der einer Politik nicht zustimmen mag, die Frauen verstärkt aus der Familie heraus- und in die Arbeitswelt hineindrücken will.

 

So passt es halbwegs zu Tim Hunt. So kann man ihn auch gut von Rainer Brüderle unterscheiden, der ebenfalls als Sexist gilt, wenn auch irgendwie auf andere Art. Bei ihm gab es auch ein echtes „Opfer“ (wenn wir es so sehen wollen), das unter ihm leiden musste, eine Journalistin vom ‚stern’. Wie war das bei Tim Hunt?

 

Anders. Kein Opfer in Sicht. Tim Hunt hat keiner Frau etwas angetan, seine Feindlichkeit, die man ihm unterstellt, ist eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sie richtete sich nicht gegen eine real existierende Frau, sondern gegen die Frauen als Gruppe. Deshalb ist auch eine Entschuldigung oder eine Wiedergutmachung nicht möglich: Bei wem sollte er sich entschuldigen? Bei „den“ Frauen? Wo sollte eine Wiedergutmachung ansetzen? Er hat nichts Schlechtes gemacht. Tim Hunt ist ein Wohltäter. Den Frauen als Gruppe hat er mit seiner Forschung geholfen und hat, wie du sagst, damit womöglich der ein oder anderen aus der Krankheit herausgeholfen.

 

Immerhin: Wir haben nun verstanden, dass wir Sexismus nicht nur an einer Meinung zum Busen im Dirndl, sondern auch an einer Meinung zur Frau in der Arbeitswelt erkennen – das Wichtigste haben wir damit immer noch nicht kapiert. Wir stehen aber kurz davor. Wir müssen uns nicht nur fragen, was Sexismus ist, sondern vielmehr, wer die Sexisten sind.“

 

 

Nicht was, sondern wer

 

„Man handelt sich den Vorwurf, ein Sexist zu sein, nicht dadurch ein, dass man etwas sagt, das man besser nicht sagen sollte, sondern dadurch, dass man ein Mann ist, egal was man gesagt und wie man es gemeint hat. Um in dem Bild zu bleiben, das du verwendet hast: Tim Hunt wurde nicht etwa mit einem Taschenbuch von Bertolt Brecht erwischt, sondern mit einem Taschenbuch von Simon de Beauvoir.

 

Wir ahnten es schon, als ich mir die Gleichstellungsbeauftragte ausgedacht und ihr einen fiktiven Text untergejubelt habe. Da hatte sich gezeigt, dass es gar nicht darauf ankommt, was jemand sagt. Es kommt einzig und allein darauf an, wer dieser jemand ist. Hier findet die berüchtigte Wer-Was-Verwechslung statt, die eine menschenfeindliche, intolerante Grundstimmung kennzeichnet.

 

Das zeigt auch die erwähnte Studie, die man auf der Internetseite der Stadt Nürnberg nachlesen kann. Ich bin sicher, dass sie das nicht zeigen wollte. Sie zeigt es aber. Selber schuld. Das haben sie nun davon. Warum machen sie solche fragwürdigen Studien?! Wir erinnern uns? Ob man Sexist ist oder nicht, sollte sich am Umgang mit den beiden Testfragen offenbaren. Was ist dabei herausgekommen? Oh weh, es gibt es Sexismus. Es wäre auch erstaunlich gewesen, wenn herausgekommen wäre, dass es keinen gibt. Doch nun kommt die spannende Frage: Wer ist sexistisch? Was sind das für Leute? Die Antwort: Frauen sind es. Frauen sind sexistisch. Mehr als Männer.

 

Das heißt: wenn man auf der Basis dieser Definition von Sexismus, die durchaus einen gewissen offiziellen Rang beanspruchen kann, einen Mann als „Sexisten“ bezeichnet, dann bezeichnet man damit einen Mann, der die Mehrheitsmeinung der Frauen vertritt.

 

Das darf er nicht. Wehe! Wenn er es dennoch tut, kann es ihn (beruflich) vernichten. Warum? Weil er ein Mann ist. Darum! Frauen können sexistisch sein, soviel sie wollen. Aber: Wenn jemand aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe (die er sich nicht ausgesucht hat und die er auch nicht ändern kann) verurteilt wird, dann ist das – bitte tief Luft holen vor dem Aufschreien – … hhh, hhh, hhh, … dann ist das: Rassismus. Dann ist das gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Dann ist das der wahre Sexismus von heute – der gefährliche Sexismus. Er ist nur für Männer gefährlich. Ein Mann kann jederzeit durch einen unbegründeten Sexismus-Vorwurf zugrunde gerichtet und Opfer eines Shitstorms (Steinigung in digitaler Dosis) werden.

 

Nicht Tim Hunt ist Sexist. Seine Peiniger und Steiniger sind Sexisten. Da es sich um Frauen handelt, kann man auch sagen: seine Peinigerinnen und Steinigerinnen. Sie verurteilen ihn nicht etwa für eine schreckliche Tat, nicht dafür, dass er als Person etwas Unverzeihliches getan hätte, sondern dafür, dass er einer Gruppe – der Gruppe „der“ Männer – angehört, gegen die sich ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit richtet, die sie als die mächtigen Sexistinnen von heute genüsslich und hemmungslos exekutieren. Weil sie es können. Weil sie es dürfen.“

 

 

Wo sind sie alle?

 

„Nun kommt der Punkt, an dem sich der Fall Tim Hunt krass vom Fall ‚Charlie Hebdo’ unterscheidet. Hier gibt es keine Parallele. Im Gegenteil. Ich frage mich: Wo sind die Schriftstellerinnen, die SchriftstellerInnen, die Schriftsteller_innen, die Schriftsteller*innen … wo sind die Journalistinnen, JournalistInnen, Journalist_innen, Journalist*innen und all diejenigInnen, die schon durch ihre aufdringliche Selbstbezeichnungen deutlich machen, wie wichtig ihnen ihre Sensibilität für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist? Wo sind sie? Was sagen sie dazu? Was sagen die Feministen?

 

Wo sind (abgesehen von uns beiden) die Schriftsteller und Journalisten, die fürchten müssen, dass sie in Zukunft nur noch unaufrichtige und verkniffen angepasste Texte schreiben können? Wo sind die aufrechten Politiker, die seriösen Wissenschaftler, die publikumswirksamen Bedenkenträger, die mutigen Verteidiger von Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit, die sich europaweit zu eindrucksvollen Massenveranstaltungen zusammenfinden? Wo sind die geänderten Profilbilder auf facebook? Wo kann man T-Shirts mit der Inschrift „I am Tim“ kaufen? Wo bleibt der Aufstand der Anständigen?

 

Man könnte sich doch mit einem ausgezeichneten Wissenschaftler und Hobby-Humoristen, dessen Scherz wir nun genau kennen, viel eher solidarisch erklären als mit Zeichnern von Cartoons, die viele von denen, die sich spontan „Je suis Charlie“ auf den Oberarm tätowieren ließen, nicht kannten. Es geht schließlich prinzipiell um dieselbe Sache! Oder – sagen wir – um eine vergleichbare Sache. Insofern ist dein Blick auf die Parallelen, über die ich anfangs ein wenig gemeckert habe, richtig und wichtig.“

 

 

Die Fische können nichts dafür

 

„Nun kommt ein Punkt, an dem ich widersprechen möchte – oder anders gesagt: Es kommt ein Punkt, den ich ausführen will. Du schreibst, dass nicht „der“ Feminismus der Akteur war, sondern eine radikale Gruppe. Damit entschuldigst du „den“ Feminismus. Der war’s also nicht. Man kann sich auch schlecht vorstellen, dass „der“ Feminismus, den du zu recht in Anführungsstrichen auftreten lässt, ein Akteur ist.

 

Aber wenn es nicht „der“ Feminismus war, wer dann? Wo ist hier die radikale Gruppe? Sehen wir uns die Akteure näher an. Da sehen wir eine feministische Journalistin, die vorsätzlich falsch von dem Vortrag berichtet und damit einen Shitstorm ausgelöst hat (sie meldete, dass der Bemerkung von Tim Hunt eisiges Schweigen folgte. Tonaufnahmen von dem herzlichen Applaus wurden erst bekannt, als es zu spät war). Da sehen wir feministische Steinigerinnen, die innerhalb kürzester Zeit einen Shitstorm lostreten konnten. Dann sehen wir die feministische Leitung der Universität, die vorschnell, ohne Tim Hunt eine Chance zu geben und ohne den Fall richtig zu kennen, mit einem Rauswurf reagierte. Dann sehen wir die von dir erwähnte feministische Abgeordnete, die den Bürgermeister von London (einen Mann), der Tim Hunt verteidigen wollte, zurechtwies und ihm Rechtsverletzung vorwarf.

 

Was wird getan? Es wird eine falsche Beschuldigung in die Welt gesetzt. Das ist nicht ungewöhnlich. Das passiert ständig. Der ach-so-privilegierte alte, weiße Mann ist sowieso im Moment die beliebteste Adresse für Schuldzuweisungen im großen Stil. Da wird es dann schon keinen Falschen treffen. Dann wird noch etwas von den vielen, kleinen Scheißestürmerinnen beigetragen, immer nur ein bisschen was, es wird nur ein klitzekleiner Kieselstein geworfen. Dann wird unterlassen. Es wird etwas nicht getan. Tim Hunt wird nicht weiter beschäftigt. Seine Entlassung wird nicht begründet. Ihm wird nicht mehr zugehört. Die meisten Akteure in dem Fall sind Nicht-Akteure. Das gilt auch für alle, die fassungslos zuschauen – und nichts tun.

 

Wer tut denn etwas? Es ist in unserem Fall keine radikale Gruppe, die etwas Verbrecherisches getan hat. Wir haben es mit einem Schwarm zu tun, der unbeirrt mit dem Strom treibt. In ihm schwimmen viele kleine Fische mit, die gar nicht zu großen Verbrechen in der Lage sind. Einige davon sind niederträchtig, viele sind nur dumm. Sind sie radikal? Im Einzelfall sind sie es nicht. Sie wirken aber in ihrer Gesamtheit. Jede einzelne Mitschwimmerin ist der Meinung, dass sie eigentlich nichts täte. Oder bestenfalls ein bisschen was tut. Doch jede einzelne tut es in dem Wissen, dass die kleinen Unterlassungen und die vielen kleinen Kieselsteine verheerende Folgen haben (sonst bringt ein Shitstorm keine Befriedigung, die bringt er nur, wenn er mit Macht und Verantwortungslosigkeit verbunden ist).

 

So bleibt zum Schluss die berühmte Frage eines Krimilesers: Wer war es? Ist der Täter endlich überführt? Ja. Der Akteur ist der Feminismus in seiner Gestalt als sexistisch-rassistische furchterregende Medusa.

 

Der Erfinder des Dreiwortsatzes „Je suis Charlie“ hatte damals erklärt, dass eine der Bedeutungen dieses Slogans sein sollte: „Ich habe keine Angst“. Ich habe den Eindruck, dass wir Angst haben.

 

Herzliche Grüße

Bernhard“