Die Geschichte des Günther-Anders-Lesebuches, das nun unter dem Titel ‚Die Zerstörung unserer Zukunft‘ neu erschienen ist, beginnt 1977 in Hiroshima, wo ich sah, dass ich nichts sah – oder besser gesagt: nicht genug sah.
„In Europa ist alles so groß, so groß, und in Japan ist alles so klein …“, so klang das Lied in mir nach. Das Mahnmal wirkte unangemessen klein, so rührend. Es war geschmückt mit bunten, aus Papier gefalteten Friedenszeichen, Mahnungen, Gebeten, Meditationen, Grüßen. Es sah aus wie ein Kindergeburtstag, der aus irgendeinem Grund ganz furchtbar traurig war.
Es war so unspektakulär. Das Museum, das an den Atombombenabwurf erinnerte, kam mir vor wie eine einzige hilflose Geste. Da waren Schaukästen, die von Überlebenden gestaltet waren, die zeigten Figuren wie aus einem Wachsfigurenkabinett, die eine Puppe durch eine Feuerkulisse trugen, mit Kleidern, die ihnen in Fetzen herunterhingen. In dem Liederbuch mit ‚Songs of Hiroshima’ hatten Kinder geschrieben: „Give back my father. Give back myself.“ Ich guckte mir alles an und kaufte mir an Büchern und Broschüren alles, was ich kriegen konnte, um das in Ruhe nachzulesen und dann vielleicht zu verstehen. Es sollte noch lange nachwirken und dazu führen, dass ich Jahre später die Bücher von Günther Anders lesen und ein Lesebuch mit seinen Texten herausgeben sollte.
Wir hatten Tränen in den Augen. Auch bei unseren japanischen Begleitern glitzerte es hinter der Brille. Jeder schrieb still Postkarten mit einfachen Sätzen, als hätte sich der Stil der Hiroshima-Lieder übertragen. Wir wollten dringend etwas loswerden, das wir immer schon mal gesagt haben wollten, doch bisher hatten wir jede Gelegenheit verstreichen lassen: „Nie wieder Krieg!“ Meine Eltern schrieben an ehemalige Nachbarn und Verwandte aus der DDR; ich an Kommilitonen. Meine Mutter erzählte von der Zerstörung von Zerbst, als Napalm eingesetzt wurde und Menschen auf die Größe einer Puppe zusammenschmolzen. Da war ich noch nicht geboren. Und was ich hier zu sehen kriegte, zeigte mir das Leiden eines Krieges, das ich nicht unterscheiden konnte von dem Leiden, das speziell durch eine Atombombe ausgelöst wird.
Meine Wahrnehmung hatte einen merkwürdig doppelten Boden. Ich sah etwas. Ich fasste es an. Ich trank Wein aus der Region – und gleichzeitig dachte ich, dass das alles nicht sein kann, dass es unwirklich ist. Hiroshima müsste doch auf ewig verstrahlt sein, die Gegend ein einziges Sperrgebiet, das man nicht betreten darf. So eine Vorstellung hatte ich von den Meldungen über Atomversuche, eine Strahlung, die „heller als tausend Sonnen“ ist, verdirbt einen Ort für immer.
Meine Anschauung passte nicht dazu. Wieso konnte ich hier frei herumlaufen? In einer freundlichen Stadt voll junger Menschen. Man sah keine Kriegsfolgen – nicht so wie etwa in Berlin. Das lag wohl daran, dass Städte in Japan sowieso irgendwie provisorisch wirken. Und selbst wenn man Folgeschäden nicht sehen kann, heißt es nicht, dass sie nicht gibt.
Dann erwischte es mich doch, ungekannte Angstgefühle durchfluteten mich. Im Gedränge in der Straßenbahn geriet ich in die Nähe einer Frau, die so alt war, dass sie den Abwurf überlebt haben könnte – falls sie von hier war. Ich wich ihr instinktiv aus. War sie verstrahlt? War das ansteckend? Würde ich jetzt auch krank werden? Oder wurde ich langsam wunderlich? Ich versuchte, eine Berührung – und sei sie noch so flüchtig – auf jeden Fall zu vermeiden.
Nagasaki liegt auf Hügeln verteilt, was die Wirkung der Bombe eingeschränkt hatte. Schon der Name „Nagasaki“ klingt nicht so dramatisch wie „Hiroshima“. Das Unglück von Nagasaki liegt im Windschatten. Günther Anders spricht in dem Zusammenhang von der „Singularität von Nagasaki“ – in Anlehnung an die Singularität von Auschwitz, um hervorzuheben, dass die Massenvernichtung durch einen technischen Apparat auf einer neuen Stufe angekommen war: Die „Notwendigkeit“ des Abwurfs begründete sich allein aus dem Wunsch, eine Bombe auf Plutonium-Basis – statt auf Neutronen-Basis wie in Hiroshima – auszuprobieren. Nagasaki ist eine Stadt mit südländischem Flair. Eine Gedenkstätte gab es da auch – die ließ ich aus. Von Folgeschäden des Krieges und eines Atombombenabwurfes war für einen durchreisenden Touristen nichts zu spüren.
Ich schlief im Krankenhaus. Nicht weil ich mich plötzlich unwohl gefühlt hätte, es lag einfach daran, dass meine japanischen Freunde praktisch veranlagt waren und eine besonders günstige Übernachtung organisiert hatten – wann hat man schon mal ein Bett mit Sauerstoffanschluss?! Der Service würde dann eben an anderer Stelle besser sein. Eine der Nonnen, die da arbeiteten, kam aus dem Münsterland und erzählte am nächsten Morgen von ihren Überlegungen und ihrer Antwort auf die Frage, die sie sich oft gestellt hat: Warum ausgerechnet Nagasaki? Da lebten doch so viele Christen. Ihre Antwort: Ein Christ ist besser auf den Tod vorbereitet.
Und ich dachte, es wäre umgekehrt – wenn man schon verallgemeinert, dann wäre meine Vorstellung, dass Japaner gelassen mit dem Tod umgehen, die sitzen doch ständig auf dem Pulverfass und trotzen den Naturgewalten, den vier Monstern: Vulkanausbrüchen, Taifunen, Überschwemmungen, Erdbeben. Ich sagte nichts, ich hatte eine andere Frage: Wieso war das Krankenhaus unterbelegt? Wo waren all die Kranken, die an den Langzeitschäden litten? Gab es für diese Kranken etwa gesonderte Lazarette? Oder wurden die in ihren Häusern versorgt? Oder gab es die nicht?
Anschauung reicht nicht. Stichproben aus der Wirklichkeit geben kein gültiges Bild. Erfahrung macht dumm. Man sieht nicht mal das, was man weiß. Da muss noch etwas hinzukommen. Es reicht nicht, vor Ort zu sein, Notizen zu machen und zu gucken.
Die Unmittelbarkeit täuscht. Also wagen wir einen Blick hinter die Kulissen des Sichtbaren und begeben wir uns in die Welt der Abstraktion, die allerdings auch ihre Tücken hat.