Hintergründe und Verhältnisse

In letzter Zeit sind wir zweimal dem Wort „Panik“ über den Weg gelaufen in Zusammenhängen, die so unterschiedlich sind, dass man dafür gar nicht ein und denselben Begriff verwenden möchte. Da diskutierten wir eben noch über die ‚Panikmacher’ – so der Titel des Buches von Patrick Bahners, der im Interview noch deutlicher wird, und einzelnen Journalisten vorwirft, sie würden „Panik verbreiten“, durch die Art wie sie den Islam beschreiben.

Er traut ihnen viel zu. Das können sie gar nicht – auch nicht, wenn sie wollten. Was er damit zum Ausdruck bringt, ist lediglich die Überbewertung des eigenen Gewerbes; es ist der Wunsch, ein Buch – er selber hat gerade auch eins geschrieben – könnte so wirkungsmächtig sein, dass es Panik auslösen kann. Aber kann es das?

Ich musste gleich an eine Szene aus dem Film ‚Eine total verrückte Reise in einem Flugzeug’ denken: Es gibt Turbulenzen, die Fluggäste werden unruhig. Da leuchtet ein Hinweis auf über den Sitzen, an diesen kleinen Leuchten, auf denen angezeigt wird, dass man sich anschnallen soll, da heißt es: „Don’t panic!“ Sofort beruhigen sich die Passagiere. Dann ändert sich das Schild plötzlich, nun steht da: „Okay, panic!“ Sofort reißen die Fluggäste die Augen auf, fuchteln mit den Armen, springen von den Sitzen auf.

Dann bebt die Erde in Japan – und es wird deutlich, wie lächerlich unsere Sorgen von gestern waren. Wie unverhältnismäßig. In Japan gibt es womöglich Grund zu Panik, und wir wundern uns, dass sie nicht ausbricht. Bei uns bricht sie aus. Es wird über eine „unverantwortliche Informationspolitik der Japaner“ geschimpft, die ihre armes Volk in Unwissenheit hält und ins Messer laufen lässt, und das in einem beschuldigungswütigem Ton. Da hat doch tatsächlich die japanische Atom-Mafia ein Schild aufleuchten lassen – „Don’t panic“ -, und die etwas zurückgebliebenen Japaner, die noch nicht unser Gefahrenbewusstsein, unsere Sicherheitsstandards und vor allem nicht unsere Selbstgerechtigkeit, Katastrophenverliebtheit und Siehste-Mentalität haben, werden dem Profitstreben geopfert und merken es nicht einmal und zeigen auch keinerlei Anzeichen, sofort umzudenken. So wie wir.

Wie sieht denn unsere Informationspolitik aus? Der ‚Spiegel’ nennt Fukushima einen „Super-Gau“. Aber: Ein Gau ist die Abkürzung für „größter anzunehmender Unfall“ – das kann man nicht steigern. Da müssten sowohl Sprachgefühl, das man beim ‚Spiegel’ eigentlich vermutet, sowie intellektuelle Redlichkeit rebellieren. Wenn Alice Schwarzer bei der Berichterstattung über den Kachelmann-Prozess von einem „Super-Gau“ schreibt – gut, das ist ihr Stil. Die ist so. Es geht aber anders. Es gibt eine Skala, die Vorfälle bei Reaktoren einordnet (Tschernobyl war 7) – warum verschweigt uns der ‚Spiegel’ diese Einordnung, die man ersatzweise aus der internationalen Presse erfährt, und übernimmt stattdessen – ohne es als Zitat zu kennzeichnen – die Wertung von Alice Schwarzer? Schon an dieser Stelle ist das keine Information, sondern Kreischen.

Es ist versuchte Panikmache. Denn ganz so einfach ist es auch nicht. Mit Übertreibungen allein kann man noch keine Panik machen. Weder der ‚Spiegel’ noch die „Panikmacher“ aus dem Buch von Patrick Bahners sitzen an einem Schalter, auf den sie drücken könnten, um „Okay panic!“ aufleuchten zu lassen. Panik entsteht erst, wenn das Kreischen einen Resonanzraum hat.

Den hat es in Deutschland. Hier hallt es besonders laut, weil bei uns der Zweite Weltkrieg erst mit der Wiedervereinigung wirklich zu Ende ging, und damit auch der Kalte Krieg, der bis zum Mauerfall eine Spur der Verwüstung in unserem Denken und Fühlen hinterlassen hat. In der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses wurden wir genötigt, uns ein atomares Inferno auf deutschem Boden vorzustellen. Das geisterte fortan durch die Nachrichten und durch die Träume. In Japan waren die Bomben gefallen, die den Krieg beendet hatten. Bei uns stand es noch bevor. Von manchen wurde ein schlimmstmögliches Ende Deutschlands sogar klammheimlich ersehnt. Als Strafe. Mit der Schuld, die mit Auschwitz auf uns lastete, hatten wir es auch nicht besser verdient. Auch wer diese Endzeitstimmung nicht teilte, wurde infiziert. Auch wer die Friedensbewegung nur aus dem Fernsehen kannte, konnte sich dem Nachbeben im Gemüt nicht entziehen. Die Sirenen heulten. Doch so ist das bei Sirenen: Die Angst lässt nicht nach, wenn die Entwarnung kommt. Kam eigentlich eine? Wie auch immer: Wir warteten schon auf den nächsten Sirenenton.

Niemand konnte garantieren, dass es nicht zu einer Katastrophe kommt. Deshalb machten die Politiker, die eine Stationierung damals nicht verhindern konnten, so eine schlechte Figur. Man konnte nur resignieren und sie entschuldigen: Na ja, sie können halt nicht anders, es sind sowieso nur Hampelmänner. Ich kann mich noch erinnern, dass Peter Handke damals von „unverantwortlicher Panikmache“ auf Seiten der Friedensbewegung sprach, und ich dachte: Oh, oh, hier irrt der Dichter aber gewaltig. Wahrscheinlich will er mal wieder auf sich aufmerksam machen.

Es war etwa 1985, an der Mauer war NO FUTURE gesprayt, da stritt ich mich mit Uli Becker darüber, woran die Welt zugrunde gehen würde. Und zwar bald. Ich war für die atomare Katastrophe, er war für Aids. Niemand konnte uns eine Garantie geben, dass das Unheil nicht eintreten würde.

In der Berichterstattung über Gorleben, die uns vorführte, dass es „hipp ist, Aktivistin zu sein“ und zu „schottern“, räumte der ‚Spiegel’ Charlotte Roche großzügig Raum ein: Ein Bekannter von ihr war in die Nähe von einem Castor geraten, krank geworden und gestorben.

Soviel Raum wünsche ich mir für die Diskussion über die Problematik, einen Zusammenhang von atomarer Strahlung und Erkrankungen zu beweisen. Das wird umso schwieriger, je mehr wir uns von der direkten Strahlung nach einem Unfall entfernen und über Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und erhöhte Risiken reden müssen. Das Krebsrisiko ist ja nicht gleich Null, solange ich nicht mit atomarer Strahlung in Berührung komme. Und die ist auch nicht der einzige – und womöglich nicht mal der entscheidende – Faktor. Es wäre ein anspruchsvoller Artikel. Aber warum nicht? Ich will es wissen von einem Magazin, in dem Intellektuelle und Wissenschaftler veröffentlichen. Und nicht Kinder, die ihre Angst vor Gespenstern schon für den Beweis für die Existenz von Gespenstern halten.

Es wird eine Umkehrung der Verhältnisse zugelassen. Weil es nicht möglich ist, den Zusammenhang zu beweisen, lassen wir uns von der Autorin der ‚Feuchtgebiete’ sagen: Solange mir keiner beweisen kann, dass so ein Zusammenhang nicht besteht (und diesen Negativbeweis kann grundsätzlich keiner erbringen), solange habe ich das Wort. Solange habe ich Recht. Das ist unverantwortliche Panikmache.

Angst ist Trumpf. Wir Deutsche haben nicht etwa einen Migrationshintergrund, sondern einen Atomangsthintergrund. Das erklärt auch unsere Sonderstellung in der Welt. Hier wiederum muss man die Berichterstattung im ‚Spiegel’ loben, hier macht er es richtig: Er zeichnet eine Karte von all den Ländern, die Atomenergie nutzen und auch weiterhin nutzen wollen. Damit setzt er unsere Position ins Verhältnis.

Davon hätte ich gerne mehr. Ich hätte zum Beispiel gerne gewusst, ob unsere Nachbarn auch unsere Auffassung teilen, dass die Frage der Endlagerung „nicht gelöst“ ist. Es wäre auch interessant zu wissen, wie unsere Nachbarn unsere Energiepolitik als „vorbildlich“ sehen sollen, wenn wir in die Situation geraten, von ihnen Strom zu importieren? Wie sollen sie uns das denn nachmachen? Es könnte auch noch mehr Verhältnismäßigkeiten in der Berichterstattung geben: In welchem Verhältnis steht die Strahlenbelastung von Hiroshima, Nagasaki, Mururoa, Harrisburg und Tschernobyl zu den tatsächlichen und den möglichen in Fukushima? Wie stark ist die Strahlung, die wir für medizinische Zwecke einsetzen? Wie stark die im Hochgebirge? Ein seriöser Journalismus sollte nicht nur angsterfüllt in die Zukunft blicken, sondern auch nüchtern zurückschauen – und Verhältnisse und Hintergründe zeigen. Das ist möglich. Wie war das damals mit der Kernschmelze in Harrisburg? Mit der Strahlenbelastung? Wie ist die Bilanz von Tschernobyl nach 25 Jahren? Von den Atomversuchen nach 50 Jahren? Von Hiroshima und Nagasaki nach 65 Jahren? Wie sieht es aus mit den Erbschäden und Missbildungen bei Kindern? Inzwischen könnten wir es doch wissen.

Dann hätten wir klare Verhältnisse.