Allen Ginsberg: Heul doch!

Ausgerechnet meine Lieblingsstellen aus Howl kamen nicht vor. Aber das konnte ich natürlich erst wissen, als der Film zu Ende war.

 

Er besteht aus mehreren Teilen: Es wird einerseits eine Lesung aus dem berühmten Langgedicht in einer verräucherten Lokalität in San Francisco simuliert – in Schwarzweiß. Dann wird in Farbe ein Selbstgespräch mit dem jungen Allen Ginsberg nachgestellt, der sich lässig einen Beutel Tee aufbrüht, ständig raucht und dabei in ein Tonbandgerät redet. Dabei offenbart er uns, dass er sich die Frage gestellt hatte, was wohl sein Vater zu so einem schamlosen Text sagen würde und er verrät ein wenig von seine Intentionen: Er wollte die Trennung aufheben, die darin besteht, dass man im privaten Kreis anders redet als in der Welt der Literatur.

 

Außerdem wird der Prozess nachgespielt, den die Veröffentlichung des schmalen Büchleins im Jahre 1955 nach sich gezogen hatte – es ist der beste Teil des Filmes mit wirklich köstlichen Szenen, mit Befragungen von „Experten“ und dem bewährten Geschick amerikanischer Filme, aus einem Prozesstag ein richtiges Drama zu machen. Man wartet nur noch auf den Applaus nach dem Plädoyer. Ein weiterer Teil des Filmes ist nicht nur einfach bunt, sondern aufgemotzt bunt mit 3D-Effekten, die versuchen, das Gedicht in Animationen umzusetzen. Schon eindrucksvoll – aber: Je länger die Eindrücke zurückliegen, umso bedenklicher und kitschiger wirkt gerade das in der Rückschau.

 

Dabei kommt ein Problem zum Vorschein, das auch vor Gericht angesprochen wurde. Da war man nämlich bei der Beurteilung einer möglichen Gefährdung der Jugend bei der Frage angekommen, ob die überhaupt Zugang zu so einem Text hat. Die Herrschaften, die darüber urteilen sollten, gingen selbstverständlich davon aus, dass sie selber keinerlei Gefährdungen zu befürchten hätten – was aber ist mit der Jugend?

 

Es war den Herrschaften schon klar, dass die Jugend durch die komplexe Sprache eher ausgeschlossen als angelockt wurden. Howl ist nicht nur obszön, sondern auch anspielungsreich, da ist nicht nur von Drogen, Psychiatrie und Homosexualität die Rede, sondern auch von William Blake, von dem ein gefährdeter Jugendlicher womöglich noch nie gehört hat. Der müsste sich, um sich an der verdorbenen Sprache zu delektieren, erstmal durch einen Griesbreiberg von unverständlicher Lyrik durchfuttern.

 

In der Animation besteht das Problem nicht. Da sieht man Bilder, die man auch versteht, wenn man keine Ansprüche hat. Da offenbart es sich: Es wird nicht etwa ein Inhalt in ein anderes Medium transferiert und damit einem anderen Publikum zugänglich gemacht – Nein: Der Inhalt wird nicht nur verkitscht und vereinfacht, er wird verändert. Es gibt im Animationsteil keine Hässlichkeiten mehr, über allem liegt eine Ästhetik, die sich auch in der Vorweihnachtszeit bewähren würde, eine Ejakulation wird so romantisiert, dass ich sie mir die auch als Werbung für Sekt vorstellen könnte. Man fragt sich, aus welcher Textzeile man wohl die Anregung aufgegriffen hat, eine vollbusige Frauenschönheit, die an Barbarella erinnert, schwerelos durch den Raum schweben zu lassen. Gegen solche Teenager-Poster kann niemand etwas haben.

 

Richtig spannend war der Film natürlich nicht. Wir wissen, wie es ausgegangen ist. Die Anklage wurde abgewiesen. Das Geheul durfte leben. „Heul doch!“, lautete die Botschaft der liberalen Rechtssprechung. Dazu mussten zuvor zwei Fragen beantwortet werden: Zum einen ging es um das Recht auf künstlerische Freiheit. Dazu musste geklärt werden, ob es sich bei dem „Machwerk“ überhaupt um Kunst handelt. Ja, tut es.

 

Dann wurde besprochen, ob man etwas dokumentieren darf, dass es tatsächlich gibt. Eine kluge Strategie der Verteidigung: Dahinter steckte der Gedanke, dass ein Verbot des Textes gleichzeitig darauf hinausgelaufen wäre, dass man damit auch die Wahrheit verbieten – zumindest nicht zur Kenntnis nehmen würde. So war denn am Ende der Richterspruch nicht nur ein Sieg für die künstlerische Freiheit, sondern auch einer für die Schwulen, für die Ausgegrenzten, für all die, die schon in der ersten Zeile als die „besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn“ bezeichnet werden.

 

Zur selben Zeit, als dieser Film, der den schönen Triumph eines Buches über die Zensur zeigt, in die Kinos kommt, lesen wir, dass Huckleberry Finn in einer Neuausgabe ohne das „n-word“ „nigger“ auskommen muss. Ganze 219 Mal wird es ersetzt. Auch John Lennon hatte Pech; seine von Yoko Ono inspirierte Hymne Woman Is The Nigger of The World wurde nicht etwa wegen der pro-feministischen Aussage, sondern wegen des Wortes „nigger“ zensiert. Allen Ginsberg durfte von „Neger-Straße“ sprechen. Andere durften nicht.

 

Dabei könnte Mark Twain mit Hilfe desselben Anwalts – wenn beide noch leben würden – mit denselben Argumenten auftrumpfen. Auch sein Buch ist ein Kunstwerk. Selbst wenn er selber den Wert nicht besonders hoch angesetzt hatte, er hielt Prinz und Betteljunge für das bessere Buch und hatte schon überlegt, die Arbeit an Huckleberry Finn einzustellen. Es ist aber Kunst, ein detailverliebtes Bild einer Wirklichkeit mit genau den sprachlichen Äußerungen, die es zu der Zeit gab. Gerade in dem Punkt ist die Bedeutung von Mark Twain herausragend. Anders als Ernest Hemingway etwa, der ebenfalls Umgangssprache verwendete, aber gleichzeitig einen reduzierten Stil anstrebte, brachte Mark Twain eine üppige Bereicherung des Vokabulars mit allerlei Besonderheiten und Spezialausdrücken in die Literatur ein, so dass man allein schon, um die Artenvielfalt zu schützen, kein einziges Wort davon streichen sollte.

 

Außerdem wollte Mark Twain nicht provozieren und hatte – im Unterschied zu Allen Ginsberg – nicht das Gefühl, eine Grenzverletzung zu begehen. Er war trotz all der Großschnäuzigkeit, die wir so an ihm schätzen, enorm rücksichtsvoll. Er vertrat sogar zeitweise die Meinung, seine biographischen Texte dürften erst hundert Jahre nach seinem Tod erscheinen. Auch seine literarischen Figuren waren behutsam montiert, für Tom Sawyer hatte er mindestens vier lebende Vorbilder verarbeitet und verfremdet. Er wusste selber, dass es mit einem geplanten dritten Teil, der Tom und Huck zu den Indianern geführt und nicht nur mit der Vorstellung des Edlen Wilden aufgeräumt, sondern obendrein das Thema Vergewaltigung aufgewühlt hätte, zu weit gegangen wäre. Er ließ es. Einen dritten Teil gibt es nicht.

 

Dass nun die Parole „Nigger raus!“ ausgerechnet auf seine Bücher angewendet wird, würde ihn vermutlich wundern, womöglich sogar wütend machen. Nebenbei fragen wir uns: Was ist eigentlich mit den anderen? Mit Joseph Conrad, mit James Fanimore Cooper? Kommt das Wort nicht auch in Onkel Tom’s Hütte vor? Mark Twain benutzte es doch gerade deshalb, um die Zustände in deutlichen Worten anzuprangern; er war – übrigens im Unterschied zu seiner Mutter – ein entschiedener Gegner der Sklaverei und müsste eigentlich mit seiner Gesinnung genau auf der Linie von denjenigen liegen, die ihm das Wort nun herausstreichen.

 

Hier zeigt sich, wie durch die political correctness aus Tatbeständen Täterbestände geworden sind. Es kommt nicht mehr darauf an, WAS getan wird, sondern WER es WANN tut. Mark Twain mag ein bedeutender Dichter gewesen sein, er hatte einen Nachteil: Er kann keine Diskriminierungsmerkmale vorweisen, er war nicht mal schwul.

 

Nun zum Schluss die Zeilen, die im Film fehlten, in der Übersetzung von Carl Weissner. Es sind keine spektakulären Zeilen, aber immerhin welche, die uns deutlich machen, wie zeitbezogen unsere Äußerungen sind. Es ist von denen die Rede, die …

 

„die ihre Armbanduhren vom Dach warfen und sich eine Ewigkeit jenseits der Zeit erwählten, und während der nächsten zehn Jahre fiel ihnen jeden Tag ein Wecker auf den Kopf,/ die sich dreimal hintereinander die Pulsadern öffneten, ohne Erfolg, es aufgaben und gezwungen waren, Antiquitätenläden zu eröffnen, in denen sie sich alt vorkamen und weinten.“

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