Goethe in der Zeitmaschine

 

Die Liebe hält die Welt im Innersten zusammen. Das weiß ich nun:

Ich war in ‚Goethe’ von Rudolph Stölzl, einem Hollywoodfilm mit deutschen Schauspielern, in dem es um den jungen Goethe in seiner Zeit in Wetzlar geht. Es wird einem gleich klar, was dem späteren Dichterfürsten damals fehlte: Ritalin.

Er ist viel zu zappelig. Wenn er durch eine Gasse hastet, verursacht er gleich vier Beinahunfälle. Er ist ein schwieriger Jugendlicher, der als Kommentar zu seiner nicht bestandenen Prüfung ein keckes LECKET MICH in großen Buchstaben in den frischen Schnee steppt. Einen Moment lang hatte ich gefürchtet, er würde seinen Namen tanzen. Doch eines war damit klar: Goethe liebte große Worte. Zumindest große Buchstaben.

 

Wenig später liebt er auch Lotte. Bei der ist er allerdings an ein „Frauenzimmer“ geraten, das die Zügel fest in der Hand hält. Sie sagt ihm, wann der richtige Moment für einen Kuss gekommen ist, woraus sich eine Sexszene in einer malerischen Ruine bei Regen ergibt, die mich als Vierzehnjährigen stark aufgewühlt hätte. Der Film ist ab sechs. Es war nicht die Werbung – „Gib Aids keine Chance“ – auch wenn es so aussah.

Es war der Hauptfilm.

Auch in meinem Alter hat es mich überrascht, dass sie dermaßen schnell zur Sache kommen, mehr noch: dass sie es überhaupt tun. Weltschmerz hatte ich mir ganz anders vorgestellt, ich dachte, es wäre das Leiden des kategorischen Menschen in der hypothetischen Welt, und das Leiden bestünde gerade darin, dass es zu solchen Szenen nicht kommt!

Etwa doch?

 

Vorher gab es noch ein wenig Lyrik; Goethe lässt sich ein paar Zeilen abringen, an denen Lotte – im Unterschied zu seinem Vater – sofort das Talent erkennt, schließlich handeln die Zeilen von der erwachten Liebe zu ihr.

Der Film tut so, als wüsste Lotte so viel wie der heutige Kinogänger, der sich nicht vorstellen kann, dass die historischen Figuren sich das nicht vorstellen konnten. „Lächerlich“, findet sie, dass er bei so schöner Lyrik nicht an sich glaubt. Sie weiß ja nichts von den Absagen, die Goethe hinter sich hat.

Sie haben sich aber schon ein wenig kennengelernt. Er ist durch blühende Landschaften geritten, um sie zu besuchen, hat sich gleich an den Herd gestellt und mit ihr zusammen Brot nach altem Rezept gebacken, als wollte er sich um einen Platz in ihrer Wohngemeinschaft bewerben.

Er empfiehlt sich als Softie, als Hausmann und Küchenfreund und freundet sich sofort mit den Kindern an. Da er virtuos Cembalo spielen kann und so ein Instrument schließlich in jedem Haushalt herumsteht, kann er gleich den Mozart-Kanon mit der Zeile „und dreh den Arsch zum Mond“ zum Besten geben, was alle lustig finden.

 

Das ist historisch richtig: Goethe hat den kleinen Wolfgang Amadeus anlässlich einer Aufführung gesehen, als dieser gerade mal vier Jahre alt war und von seinem Vater als dressiertes Äffchen vorgeführt wurde und noch weit davon entfernt war, mit eigenen Kompositionen bekannt zu werden. Es stimmt also schon irgendwie, nur die zeitliche Reihenfolge passt nicht.

Das fällt aber nicht weiter auf, weil an dem Film sowieso fast alles falsch ist – angefangen davon, dass Goethe seine Prüfung bestanden hatte.

Es gab mal einen Videorecorder mit Timerfunktion. Da konnte man einstellen, von wann bis wann etwas aufgenommen werden sollte. Bei einem der Modelle konnte man das Datum beliebig einstellen, was zu dem Witz Anlass gab: Stell doch mal den Recorder auf vorigen Sonntag und nimm den ‚Tatort’ auf, der letzte Woche gelaufen ist.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich die Autoren des Drehbuchs so einen Videorecorder zum Vorbild genommen haben: Sie übertragen heutige Klischees und den Traum von der überlegenen Frau in eine frühere Zeit, von der sie keine Ahnung haben wollen. Oder wie Goethe selber sagt:

 

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

In dem die Zeiten sich bespiegeln.“

 

Goethes Worte haben besondere Kräfte. Moritz Bleibtreu, sein Vorgesetzter, der ebenfalls ein Auge auf Lotte geworfen hat, braucht zu seinem Glück nur noch eine gute Schlagerzeile, die er bei seinem Antrag zur Verlobung anbringen kann. Vielleicht hat er mal den Film ‚Cyrano de Bergerac’ gesehen .

Goethe – ohne zu ahnen, wer das Opfer seines Zauberspruches werden soll – schlägt vor: „Es ist die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält“.

Moritz Bleibtreu ist so blöd, dass er nicht etwa sagt: Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Oder: So einen Spruch kann ich mir auch selber ausdenken. Im Gegenteil. Er tut, als wäre er nie auf so etwas gekommen und hätte nun eine ganz neue Erkenntnis gewonnen.

Er spielt eine Art Doppelrolle. Einerseits ist er als Gegenspieler zu Goethe der unsympathische Idiot, dann wiederum ist er nicht nur beruflich erfolgreich, gesellschaftlich gut angesehen und ein guter Schütze; er ist auch jemand, der Lotte soziale Sicherheit bieten kann. An ihn glaubt sie mehr als an Goethe.

So ist es auch im Buch, in dem berühmten ‚Werther’: Da muss der Arme einsehen, dass seine Angebetete mit einem anderen zusammen ein glückliches Paar abgibt. Nur er ist unglücklich, weil er übrig bleibt in einer Welt, die ohne ihn und ohne sein Leiden völlig in Ordnung ist und in dieser Ordnung auch nicht in Frage gestellt wird.

Das ist ja gerade der Weltschmerz. Der andere Mann ist nicht etwa eine Karikatur, sondern eine durchaus akzeptable Wahl für die Frau.

 

Nun wird es spannend. Die beiden ungleichen Konkurrenten um Lottes Gunst geraten aneinander, Moritz Bleibtreu fordert Goethe zum Duell. Es wird richtig spannend. Wir wissen, dass Goethes Gegner ein guter Schütze ist. Goethe trifft nicht. Sein Vorgesetzter schießt demonstrativ in die Luft. Das ging noch mal gut.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er Goethe tödlich getroffen hätte. Dann hätte nicht nur die Nachwelt auf Goethes gesammelte Werke verzichten müssen, man hätte auch den Film gar nicht machen können.

So spannend war es also doch nicht.

 

Nun werden sie verhaftet – wegen unerlaubtem Duellieren. Goethe muss in den Kerker, obwohl er derjenige war, der herausgefordert wurde. Da kann man mal sehen, wie kompliziert die Rechtslage früher war. Während er nun im Kerker ein Buch mit selbstgemachten Zeichnungen bei Kerzenlicht schreibt, dass die Feder nur so über die leeren Seiten huscht, kann die Hochzeit zwischen Lotte und Goethes Vorgesetztem ungestört stattfinden.

Als Lotte das Manuskript zugestellt wird, besucht sie Goethe in der Zelle und knallt ihm erstmal eine, weil sie mit dem Schluss des Buches, wo es zum Selbstmord kommt, nicht einverstanden ist.

Dann erklärt sie ihm, dass sie ihren Ehemann liebt und zu ihm als Versorger steht, weil ein schwärmerischer Werther ihr nicht das bieten kann, was der Ehemann ihr bietet. Sie hatte zwar gesagt, dass Goethe an sich glauben soll, dass sie an ihn glaubt, hatte sie nicht dazugesagt.

Hätte sie es doch getan. Goethe wäre die bessere Wahl gewesen.

 

Dass sie den jungen Goethe schlägt, ist juristisch ein Sonderfall. Es gilt nicht als häusliche Gewalt, da die beiden nicht in einer Lebensgemeinschaft leben und es gilt auch nicht als Misshandlung von Strafgefangenen, weil Lotte keine Gefängniswärterin ist. Es ist nur eine weitere Demonstration, die uns zeigt, dass sie als Frau alles darf.

Als Goethe nun unglücklich verliebt, unschuldig verurteilt, gescheitert und geohrfeigt zu seinem Vater zurückfährt, erlebt er in Frankfurt eine Überraschung. Damals hatten Verlage noch nicht so lange Vorlaufzeiten wie heute. Es gab noch keine Buchmesse und keine Elke Heidenreich. Es ging auch so. Ganz Frankfurt ist auf den Beinen und drängelt sich in einen Buchladen, um den Bestseller von Goethe zu kaufen.

Goethe wird erkannt, obwohl damals noch keine Autorenfotos auf den Büchern waren. Er erklimmt das Dach einer Postkutsche und während die Menge „Johann! Johann!“ skandiert, durchmischt mit der Parole „Ein Rudi Völler, es gibt nur ein Rudi Völler“ (aber da könnte ich mich verhört haben), signiert er sein Buch, das er bei der Gelegenheit selber zum ersten Mal in der Hand hält, mit einem Montblanc Kugelschreiber.

Wir ahnten es schon. Lotte hatte das Originalmanuskript, ohne den Verfasser zu fragen, an einen Verleger geschickt, schließlich hat sie auch von dem kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar aus die besten Kontakte zur literarischen Welt und hat sich auch schon das Copyright für den Markenartikel ‚Werther’ gesichert.

Was Goethe nicht gelungen ist, gelingt ihr auf Anhieb: Das Manuskript wird angenommen, und wird ein durchschlagender Erfolg. Es handelt ja auch von ihr. Sie ist nicht nur die Heldin des Buches, sondern auch seine Agentin.

Für das Leiden hatte sie auch gesorgt.

 

Hier gibt es immerhin einen wahren Kern. Der ‚Werther’ war zwar ungewöhnlich erfolgreich, dennoch konnte Goethe nicht davon leben und musste als „Fürstenknecht“ arbeiten. Bisher dachte ich immer, dass es daran lag, dass es so viele Raubkopien gab und das Urheberrecht noch nicht entwickelt war, es könnte aber auch daran gelegen haben, dass Lotte einen sehr ungünstigen Vertrag ausgehandelt hatte.

Das erfahren wir nicht. Wir erfahren auch nicht, was Lottes frisch gebackener Ehemann dazu sagt, dass sie die Heimlichkeiten ihres Liebeslebens öffentlich macht.

 

Zum Schluss sehen wir sie in einem schmucken Jäckchen im Gespräch mit dem ‚Tatort’-Kommissar, der sie freundlich fragt, was denn nun an der Geschichte wahr sei. Es ist, sagt sie weise lächelnd, „mehr als Wahrheit, es ist Dichtung“ und meldet damit Titelschutz an für ‚Dichtung und Wahrheit’.

Sie sieht so liebenswert aus mit ihrem unschuldigen Augenaufschlag und den aufgespritzten Lippen. Doch der arme Goethe hatte sein Herz an die Falsche verloren: sie verführt, betrügt, schlägt und beraubt ihn – die ideale feministische Heldin.

Damit das Bild dieser „neuen Frau“ in die alte Zeit passt, musste die Vergangenheit im großen Stil gefälscht werden.

bernhard_goethe

Wer Goethe bisher nicht kannte, kennt ihn nachher auch nicht. Er kennt eine Karikatur. Wer ihn nicht mochte und trotzdem in dem Film gegangen ist, wird ihn nachher umso weniger mögen. Wer ihn mochte und in den Film gegangen ist, wird womöglich das Gefühl haben, dass da eine neue Art von Leiden an den Zuschauer weitergegeben wird.

Ich mag ihn. Es gab allerdings Phasen, da mochte ich ihn nicht. Gerade weil er so sehr respektiert wurde. Da dachte ich, dass ihm ein dezent respektloser Umgang nicht schadet. Ich hatte auch mal so einen Videorecorder und ich habe auch mal ein unzeitgemäßes Gedicht auf Goethe geschrieben.

Das ist lange her. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich das nur getan, um eine Studentin, die sich mit einem Referat über ‚Wilhelm Meister’ abquälte, zu trösten, als ich mit einem Kuchen bei ihr in der Wohngemeinschaft auftauchte, den ich nicht selbst gebacken hatte.

So habe ich am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Frauen mit selbstgeschriebenen Reimen zu beeindrucken, damit sie womöglich an einen glauben. Ich vermochte es nicht.

Vielleicht fühle ich mich Goethe deshalb irgendwie nah.

Goethes Leiden
Goethe sprach zu Eckermann:
„Ruf mal bei dem Bäcker an
und bestelle eine Torte.“
„Goethe, was sind das für Worte?“
,fragte Eckermann erschrocken.
„Ich bin völlig von den Socken.
Torte essen? Du sollst schreiben!“
Goethe sprach: „Ich lass es bleiben,
ich hab den totalen Frust,
hätte ich das gleich gewusst,
hätte ich es ganz gelassen.“

 „Goethe, das ist nicht zu fassen.“

 

„Doch … Ich komm einfach nicht voran.

Der Roman … Es kotzt mich an …“

 

Darauf sagte Eckermann:

„Lieber Goethe, mecker man

nicht so viel, denn deine Leiden

sind noch relativ bescheiden.

Denk, wie stark erst die Beschwerden

all der Leser werden werden,

die das Ganze dann studieren

und darüber referieren.

Wie werden deren Leiden sein?!“

 

Goethe sprach: „Das seh ich ein.“

     

 

 

 

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