Aber zur richtigen
‚Mut zur Angst’ – so lautet eine berühmte Formel von Günther Anders.
Die Gefahr der Vernichtung unserer Zukunft durch Atomwaffen ist so groß, dass wir es uns nicht leisten können, uns die vorzustellen. Deshalb tun wir es gar nicht erst. Die Gefahr ist übergroß. Die Impulse, die eine Angst bei uns auslösen und uns dazu bringen könnte, angemessen zu reagieren, sind nicht etwa „unterschwellig“, also zu klein, um wahrgenommen zu werden, sondern „überschwellig“, also zu groß.
So wird uns Zeitgenossen (er nennt es „Internationale der Generationen“) und uns „Raumgenossen“ (dazu werden wir durch die Universalität der Bedrohung) der Mut zur Angst so schwer macht. Er spricht von „Apokalypse-Blindheit“, von „Verbiederung“ (sein Gegenentwurf zum Begriff „Entfremdung“), von falschen Begriffen wie „Atomwaffe“ (er erklärt, warum man das nicht mehr als „Waffe“ bezeichnen kann) und führt uns zu ontologischen Fragen und dem Problem, dass wir uns das Nichts nicht vorstellen können.
Ich hatte schon nach Fukushima etwas über seine Texte geschrieben, die für meine „Weltanschauung“ so eine bedeutende Rolle gespielt haben, noch eh ich ahnen konnte, dass das ‚Günther Anders Lesebuch’ – fast zwanzig Jahre nach seinem Tod – noch mal aufgelegt werden würde und inzwischen unter dem Titel ‚Die Zerstörung unserer Zukunft’ neu erschienen ist.
Günther Anders stand unter dem Eindruck von totalitären Systemen, er hatte noch die alten Propaganda- und Manipulationstechniken kennengelernt, war aber besonders interessiert an den neuen, den „lügenhaften Formen der heutigen Lügen“. So hat er zum Beispiel darüber spekuliert, wie die Erfindung des Farbfernsehens einen späten Wahlsieg von Richard Nixon ermöglicht und welche Bedeutung Spielautomaten für die Seele (er spricht tatsächlich von „Seele“) der Menschen hat.
Er war ein besonderer Menschenversteher. Deswegen hat man ihn richtig gern und bewundert ihn nicht nur. Er war aber auch – das klingt jetzt etwas merkwürdig – ein Maschinenversteher. Er dachte über das „Wesen“ der Bombe nach, forderte eine „Dingpsychologie“ und thematisierte die „Phantomisierung“ – bleiben wir doch mit unseren seelischen Konflikten nicht mehr unter uns im Kreise der realen Menschen. Wir befinden uns längst im Kreis von realen Menschen gemischt mit Phantomen, die durch die „Synchronisierung des Bildes mit dem Abgebildeten“ entstehen – er meint Fernsehbilder, die zunehmend unsere Gefühle beeinflussen. So berichtet er von echter Babywäsche, die an die Sender geschickt wurde für fiktive Babys aus Vorabendserien. (Wer zufällig das Buch von Jonathan Schell ‚Das Schicksal der Erde’ kennt oder von Neil Postman ‚Wir amüsieren uns zu Tode’ – da steht drin, was schon bei Günther Anders zu lesen war).
Er stand ebenfalls unter dem Eindruck des heißen und des kalten Krieges. Er sah allein schon in dem Umstand, dass sich Sozialismus und Kapitalismus im Wettbewerb gegenüberstehen, eine Niederlage des Sozialismus. Ich vermute, dass er sich den Zusammenbruch des Sozialismus nicht vorstellen konnte, auch nicht die Abrüstung und die Vernichtung von Atomwaffen („-waffen“ ist eigentlich falsch, s.o.).
Er stand vor allem stark unter dem Eindruck der Atomtest – wobei er schon das Wort „Test“ monierte (seine Sprachbetrachtungen sind eine Freude: Immer wieder „horcht“ er in die „Worte hinein“ und bringt uns dazu, sie in neuem Licht zu sehen. Also: Es ist nämlich kein „Test“, sondern ein „Ernstfall“). Er war von der Unausweichlichkeit eines atomaren Schlagabtausches überzeugt. Das wäre dann das „letzte Gefecht“.
Es kam anders.
Hiroshima war ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Als ich selber in Hiroshima war, war ich dankbar, dass ich durch ihn nicht mehr alleine war mit meinen Eindrücken. Und nun? Können uns seine Texte auch Fukushima erklären – den Wendepunkt unserer Energiepolitik? Führt etwa eine direkte Linie von einem dieser japanischen Schreckensnamen zum anderen – ein Shinkansen von Hiroshima nach Fukushima? Zu seinen Lebzeiten hätte man vermutlich die Frage (die man so nachträglich natürlich gar nicht stellen kann) mit Ja beantwortet. Seine Parole ‚Hiroshima ist überall’ wurde zu ‚Gorleben ist überall’ umgewandelt. Es gab auch ‚Seveso ist überall’. Das war ganz in seinem Sinne. Damals hatte die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft noch den Hintergedanken, auch für den „Ernstfall“ nützlich zu sein. Ein Gedanke, der weiterlebt in der Vorstellung, dass ein Atommeiler von Terroristen als Waffe der besonderen Art umfunktioniert werden könnte.
Und wie steht es mit der Angst? Hat sich die verändert seit 1959? Wie liest sich das Motto ‚Mut zur Angst’ heute? Muss heute jemand besonders mutig sein, wenn er seine Angst zum Ausdruck bringen will? Haben wir es nicht vielmehr mit einem Konsens in Sachen Angst zu tun? Einem Gruppenzwang gar? Erfordert es heute nicht viel mehr Mut zu sagen: Ich teile die Angst nicht? Oder: Ich will erstmal die Berechtigung der Angst überprüfen?
Was hat sich inzwischen geändert? Die Grünen brachten uns als zweites, gleichwertiges Thema neben ihrem Anti-AKW-Fundamentalismus den Feminismus, den sie mit Quoten fest verankert haben, so dass in dieser Frage keine kritische Infragestellung mehr möglich ist. Die 70er Jahre kannten sowohl die Parole ‚Atomkraft Nein Danke’ als auch den Spruch ‚Die Zukunft ist weiblich’. So kam es auch. Frauen geben heute den Ton an; sie sind einerseits gleich, andererseits anders. Sie bringen einen anderen Umgangston, soziale Kompetenzen, Empathie und letztlich den Frieden. Das kann man so sehen.
Man kann es auch so sehen, dass Frauen ein Mehr an Angst mit sich gebracht haben. Ihre Gebärfähigkeit macht sie schutzwürdig – und liebenswürdig! -, und das ändert sich nicht plötzlich, wenn die Geburtenrate langsam sinkt. Die Themen der Frauen sind daher: Angst vor Männern (alle Männer sind Gewalttäter), Angst vor Technik (Technik zerstört die Natur, die Natur ist weiblich und gut), Angst vor Veränderungen (am besten wird in der Verfassung festgeschrieben, dass sich nichts mehr ändern darf). Angst ist der gemeinsame Nenner. Und so fordern sie: Sicherheiten, Sicherheiten, Sicherheiten; Schutz, Schutz, Schutz. Ihr Zentralorgan ist die Sensationspresse, die Ängste stets neu befeuert. Und ihre Politik fördert einen grundfalschen Umgang mit der Angst, wie er sich etwa an den Frauenparkplätzen zeigt, die Angst-Aufladestationen sind, und der Frau am Steuer das signalisieren, was die Klamauk-Gruppe ‚Erste Allgemeine Verunsicherung’ so zusammengefasst hat: „Das Böse ist immer und überall“.
Frauen sind nicht gleich. Manche sind so ängstlich, dass man ihnen tatsächlich empfehlen sollte, nur in Begleitung in die Öffentlichkeit zu gehen. Es gibt für solche Fälle aufblasbare Beifahrer-Puppen, die mögliche Angreifer abschrecken. Anderen Frauen ist das alles nicht nur schnuppe – sie finden inzwischen das Theater um Frauenparkplätze und Schutzräume für Frauen nur noch peinlich. Doch da nun das Private politisch geworden ist, ist eine Norm entstanden. Ein Angst-Standard. Der wird weder den tatsächlichen Gefühlen der Frauen noch der tatsächlichen Bedrohung gerecht. Doch so wird eine diffuse Angst zementiert.
Schon Jean Paul stelle fest, dass Frauen generell ängstlicher sind. Er empfahl deshalb, dass sie sich nicht zu lange mit der Kindererziehung befassen sollten. Solange die Kleinen klein sind – klar. Je größer sie werden, umso weniger tut ihnen eine Erziehung zur Angst gut. Zumal es eine Angst ist, die sich so auswirkt, dass sie die Frauen „selbstiger“ macht – damit meinte er: selbstbezogen. Es gibt also verschiedene Ängste. Und die können in verschiedene Richtungen wirken.
Effi Briest hat auch Angst. Es ist womöglich ihre stärkste Empfindung. Sie hat Ängste – um nur einige zu nennen – vor ihrem Mann, den sie noch nicht kennt; vor der „weißen Frau“, die bei Nacht aus dem Bilderrahmen steigt und vor einem Chinesen, auch wenn der schon im Grab liegt. Sie hat allerdings auch eine gute Art, mit ihrer Angst umzugehen, selbst wenn das schreckliche Stichwort „Chinese“ fällt: „Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe …“ – Ja, sie fragt! Sie will es wissen – „ … Solange ich es nicht weiß, bin ich, trotz aller guten Vorsätze, doch immer ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.“
„Bravo!“, sagt daraufhin ihr Mann, und „Bravo!“ möchte man ihr noch nachträglich zurufen. Das war mutig, Effi. So sollte auch der „Mut zur Angst“ sein.
Günther Anders hat sich den Schrecken stets im Detail angesehen: Er reiste nach Hiroshima – später auch nach Auschwitz. Er wollte wissen, wie es da aussieht, auch wenn ihm klar war, dass die Anschauung nicht ausreicht, da half ihm dann seine „Gelegenheitsphilosophie“ weiter, mit der er mehr verstehen konnte, als man vor und hinter den Kulissen sieht. In der Fabel ‚Der Blick vom Turm’ erzählt er von einer Frau, die vom Turm herabblickend beobachtet, wie ihr Kind von einem Auto überfahren wird. Es ist nur ein Spielzeugauto. Solange sie oben auf dem Turm bleibt. Sie will nicht herabsteigen; denn „unten wäre sie verzweifelt“. Sie bringt den Mut nicht auf.
Wie steht es nun mit unserer Angst zum Stichwort „Fukushima“? Versetzt uns die Erwähnung des Namens auch einen Stich? Und wollen wir es wissen? Das Wirkliche? Fragen wir? Wollen wir wissen, wie groß der Schaden ist, vor dem wir uns fürchten müssen? Oder ziehen wir es vor, uns mit Phantasien zu quälen?
Als ich noch mal in dem Buch geblättert habe, habe ich versucht mich zu erinnern: Gab es da nicht etwas über den richtigen Umgang mit der Angst, wenn man soweit gekommen ist und den Mut aufgebracht hat, sie zuzulassen? Ja. Wenn wir unserer Angst „erweitern“ sollen, dann nicht etwa die Art von Angst, die uns „selbstiger“ macht, die dazu führt, dass wir darin baden und eine Selbstgerechtigkeit entfalten, die uns dazu verleitet, uns nicht nur für Gutmenschen, sondern sogar für Bessermenschen zu halten. „Freilich muß diese, unsere Angst eine von ganz besonderer Art sein …“, schreibt er, „ … eine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns zustoßen könnte.“